Über Gott und die Welt
und die Zeit betraf. Man stelle sich vor, da organisierte ein Städtchen von wenigen tausend Einwohnern, abseits der großen Zentren des Landes und mitten in der toten Saison, Begegnungsabende mit der Philosophie (jenem alten Gespenst, das heute nicht einmal mehr in der Oberstufe der höheren Schulen noch spuken darf ). Erstaunlich war ferner, daß zu einigen dieser Abende bis zu tausend Personen kamen. Noch erstaunlicher dann, daß die Sitzungen bis zu vier Stunden dauerten, und die Fragen aus dem Publikum reichten vom Eingriff dessen, der schon alles wußte und mit dem Redner ein gelehrtes Streitgespräch anfi ng, bis zum wilden Zwischenruf dessen, der wissen wollte, was der Philosoph von der Droge halte und von der Liebe und vom Glück und vom Tod – so daß manche Redner sich geradezu wehren und daran erinnern mußten, daß ein Philosoph kein Orakel ist und nicht zu sehr »charismatisiert«
werden darf (wer hätte das vor zehn Jahren gedacht?). Doch das Staunen mußte noch wachsen, wenn man ein paar quantita-tive und geographische Überschlagsrechnungen anstellte. Ich spreche von meiner Erfahrung. Es war klar, daß Cattolica für sich allein nicht genügte, um so viele »Kunden« zu liefern. Und tatsächlich kamen sehr viele von außerhalb, aus der Romagna, aus den Marken und von noch weiter her. Ich machte mir klar, daß viele auch aus Bologna kamen, der Stadt, in welcher ich an drei Tagen der Woche Vorlesungen halte. Warum kam jemand aus Bologna nach Cattolica, um zu hören, was ich dort in kaum fünfundvierzig Minuten sagte, obwohl er doch jederzeit während des Studienjahres bloß in die Uni zu kommen brauchte, wo der Eintritt frei ist (und durch die Fahrt von Bologna nach Cattolica, mit Benzingeld und Autobahngebühren und auswärts essen etc. kam ihn das Unternehmen teurer zu stehen als ein Theaterbesuch)? Die Antwort lag auf der Hand: Sie kamen nicht meinetwegen. Sie kamen, um das Ereignis mitzuerleben: um auch die anderen Redner zu hören und an einer Kollektivveranstaltung teilzunehmen.
An einem Spektakel? Ich würde ohne zu zögern, ohne Scham oder Bitterkeit sagen: ja. In vielen Epochen der Geschichte waren philosophische oder forensische Diskussionen auch Spektakel: Im mittelalterlichen Paris ging man zu den Disputationen der quaestiones quodlibetales nicht nur, um zu hören, was der eine oder der andere Philosoph zu sagen hatte, sondern auch, um ein Streitgespräch mitzuerleben, ein Kräftemessen, ein wettkämpfe-risches Ereignis. Und es erzähle mir keiner, im antiken Athen sei man scharenweise in die Amphitheater geströmt, zur Aufführung dreiteiliger Tragödien mit anschließendem Satyrspiel, bloß um dort brav und sittsam auf den Stufen zu hocken, bis alles vorüber war. Man ging hin, um ein Ereignis mitzuerleben, bei dem auch die Anwesenheit der anderen zählte – und die Stände mit den Speisen und Getränken, das Ritual mit dem ganzen Drumherum eines »kulturellen« Festivals. Genauso wie man in New York hinging, um sich Einstein on the Beach anzusehen, ein Stück, das über fünf Stunden dauert und dessen Handlung so konzipiert ist, daß die Leute zwischendurch aufstehen, rausgehen, sich was zu trinken holen, mit anderen diskutieren, wieder reinkommen und wieder rausgehen können. Zwischendurch rein- und rausgehen ist nicht unbedingt nötig, ich kann mir vorstellen, daß man in die Arenen geht, um sich eine Beethoven-Symphonie von Anfang bis Ende anzuhören. Was zählt, ist das kollektive Ritual. Als könnte das, was einmal die Hohe Kultur war, wiederaufgenommen und in eine neue Dynamik eingefügt werden, sofern und solange es nur eben auch Begegnungen und gemeinschaftliche Erfahrungen zuläßt. Dem Konservativen, der hier einwendet, daß die Kultur mit dem großen K, wenn sie so zerstreut konsumiert werde, einem »nichts gebe«, da es an der nötigen Konzentration fehle, ist entgegenzuhalten (wenn man höfl ich sein will, es gäbe auch schroffere Alternativen), daß niemand weiß, wieviel der normale Kulturkonsument von einem Vortrag oder Konzert »mitbekam«, in dem er nach fünf Minuten selig entschlummert war, um erst beim Schlußapplaus aufzuschrecken. Der Konservative hätte ge-wiß nichts einzuwenden gegen jemanden, der sich ein Buch von Platon mit an den Strand nimmt, mag er es dort auch umgeben von Kindergeschrei und keifenden Müttern und Radiogedudel lesen, er wäre des Lobes voll über den guten Willen dieses so bil-dungsbefl issenen Badenden; doch es mißfällt ihm, wenn
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