Über Gott und die Welt
Reihe von kulturellen Moden über ein Jahrzehnt zu verfolgen. Ihre Fortdauer zeigt sich an bestimmten Automatismen, Zitaten, journalistischen Aberrationen verschiedener Art; ihr Zerfall bezeugt die Flüchtigkeit der gebildeten Spieler, eine bei uns verbreitete schmerzliche Unfähigkeit, Anregungen und Ideen, Forschungslinien, Thematiken und Probleme keimen und reifen zu lassen.
Besonders interessant kann es sein, diese Entwicklung über ein Jahrzehnt zu verfolgen, das (nach einer berühmt gewordenen Formel von Arbasino) das Jahrzehnt des »Ausfl ugs nach Chiasso«15 genannt worden ist: Eine provinzielle italienische Kultur, die sich während der zwanzig Jahre des Faschismus über die eigene Zaghaftigkeit hinwegtröstete, indem sie der Diktatur vorwarf, sie verwehre ihr die Kenntnis dessen, was jenseits der Grenzen geschah (dabei war es nicht einmal nötig, bis nach Chiasso zu fahren, um zu wissen, was anderswo publiziert wurde: Granisci brachte es sogar noch im Gefängnis fertig, eine Menge zu lesen), beschränkte sich auch in den ersten Jahren nach der Befreiung darauf, ihr schamhaftes Schattendasein zu pfl egen. Als dann die sechziger Jahre kamen, brach die Modernisierung wie eine Flut über sie herein und verschlang ihre Kinder, überschüttete sie aus den Spalten der »Kulturseiten«, mit der Bücherschwemme und in den Kiosken voller Paperbacks. Die Entdeckungen wurden zu Sensationen, die Sensationen zu Sprachgewohnheiten, die Sprachgewohnheiten zu Marotten und die Marotten zu Unfug.
Das traurige Schicksal des Wortes »Entfremdung« zeigt exemplarisch, wie groß der Nachholbedarf war: Ein ehrwürdiger Begriff, eine schreckliche Realität, eine kulturelle Gegebenheit, mit der die Studenten auf ihre Weise ohne Traumata umgin-gen, wurde plötzlich zur gängigen Münze. Der infl ationäre Gebrauch, der die Organe entwickelt, macht die Begriffe stumpf.
Den hier ins Auge gefaßten richtete er zugrunde, und es war gut, daß es Leute gab, die den Exzeß anprangerten. Doch die Angst vor dem Exzeß schloß auch jenen den Mund, die noch besonnen und verantwortlich reden konnten. Ich kenne einen Philosophiestudenten, der jahrelang an einer Dissertation über den Begriff der Entfremdung bei Marx gearbeitet hatte und dann zwischen 1961 und 1962 gezwungen war, den Titel seiner Arbeit zu ändern, um noch ernst genommen zu werden. Andere haben indessen nicht nur den Titel, sondern auch gleich das Thema gewechselt. Eine triste Geschichte.
Ich weiß nicht, ob wir es jemals schaffen werden, uns zu ändern.
Hier eine Episode, die mir zustößt, während ich die Fahnen dieses Aufsatzes korrigiere:
Entspanntes Gespräch mit einem Freund, den ich seit langem nicht mehr gesehen habe, er ist jetzt Professor an einer kleinen Provinzuniversität, versunken in Probleme der klassischen Philologie, aber mit wachem Interesse für die kulturellen Strömungen, die gerade »in Mode« sind – distanziert natürlich, mit einem Anfl ug von Ironie, aber geistig noch immer rege. Ich erzähle ihm, daß ich in Amerika Roman Jakobson getroffen habe. Er lächelt: »Zu spät. Gerade jetzt nehmen sie ihn auseinander …« – »Wer nimmt ihn auseinander?« – »Na, alle. Er ist doch passé, oder nicht?«
So ist das also. Jakobson wird im vorigen Jahrhundert geboren. Er nimmt am Moskauer Zirkel teil, er geht durch die Oktoberrevolution, er kommt nach Prag, erlebt die zwanziger Jahre, überlebt den Nazismus, beginnt das amerikanische Abenteuer, überlebt den Krieg, stellt sich der neuen strukturali-stischen Generation und wird als Großmeister akklamiert, überlebt die jüngsten der neuen Generation, erobert die kulturellen Märkte, die ihn bisher ignorierten, wird siebzig, überlebt die neuen Schulen der slawischen, der französischen und der amerikanischen Semiotik, in der er weiterhin führend bleibt, tritt aus jeder Erfahrung ungebrochen hervor, einhellig anerkannt von der internationalen Kultur, macht Fehler, gewiß, überlebt aber noch seine eigenen Fehler … Nur in Italien, wo er 1964 erstmals zitiert, 1965 gelesen und 1966 übersetzt wird, überlebt er ein knappes Jahr später nicht die Erosion der italienischen Intelligenz. Quod non fecerunt barbari … Drei Jahre Bekanntheit in Italien, und er ist erledigt, passé. Um noch an die Gültigkeit seiner Lehren zu glauben, muß man sehr jung, sehr naiv, sehr retiriert oder sehr emigriert sein. Inzwischen geht es bereits darum, Noam Chomsky so schnell wie möglich veralten zu lassen, möglichst
Weitere Kostenlose Bücher