Über Gott und die Welt
einer Thematisierung und Beurteilung des Konsumzwangs, der ihm aufgedrängt und dem er unterworfen wird).
Als Ort der totalen Ignoranz konstituiert das Sportgerede den Bürger derart tiefgreifend, daß er in Grenzfällen (und die sind zahlreich) sich weigert, diese seine alltägliche Dauerbereitschaft zur leeren Diskussion zu diskutieren. Daher wäre kein politischer Aufruf imstande, Eindruck auf eine Praxis zu machen, die nichts anderes ist als die totale Verfälschung jeder politischen Disponibilität. Und darum hätte kein Revolutionär je den Mut, die Bereitschaft zum Sportgerede zu revolutionieren: Der Bürger würde den kritischen Einspruch entweder integrieren, indem er seine polemischen Spitzen in polemische Spitzen des Sportgeredes verwandelt, oder ihn rundweg ablehnen, voller verzweifeltem Mißtrauen gegen den Einbruch der Vernunft in seine ach so vernünftige Anwendung höchst vernünftiger Rederegeln.
Darum sind die Studenten in Mexico City umsonst gestorben, als sie gegen die Olympischen Spiele protestierten. Und darum erschien es vernünftig, als ein italienischer Sportler nobel erklärte:
»Wenn sie noch mehr umbringen, springe ich nicht.« Doch wie viele sie noch hätten umbringen müssen, um ihn am Springen zu hindern, ist nicht festgelegt worden. Daß, wenn er dann nicht gesprungen wäre, es den anderen genügt hätte, zu bereden, was passiert wäre, wenn er gesprungen wäre.
(1969)
Die Fußball-WM und ihr Staat*****
Viele mißtrauische und boshafte Leser werden, wenn sie mich hier so distanziert und naserümpfend und (sagen wir’s ruhig) angewidert über das edle Spiel des Fußballs herziehen sehen, den platten Verdacht haben, daß ich den Fußball nicht liebe, weil der Fußball nie mich geliebt hat, mich als einen, der schon im zarten Kindesalter zu jener Sorte von Stieseln gehörte, die, kaum daß sie den Ball berühren – vorausgesetzt, sie gelangen soweit –, ihn stante pede ins eigene Tor expedieren oder im günstigsten Falle dem Gegner zuspielen, wenn sie ihn nicht mit zäher Beharrlichkeit über Hecken und Zäune hinaus ins Gelände schießen, wo er in Kellerlöchern verschwindet, in Bächen davonschwimmt oder zwischen den klebrigen Köstlichkeiten des Eisverkäufers versinkt – so daß die Kameraden sie wegschicken und nicht einmal in den leichtesten Kämpfen mitspielen lassen. Nie ist ein Verdacht der Wahrheit näher gekommen.
Ich bekenne noch mehr. Bemüht, mich so wie die anderen zu fühlen (vergleichbar einem kleinen terrorisierten Homosexuellen, der sich immerzu einredet, daß ihm die Mädchen gefallen »müssen«), bat ich des öfteren meinen Vater, einen gemäßigten, aber beständigen Fußballfan, mich ins Stadion mitzunehmen. Und eines Tages, dieweil ich verwundert die unsinnigen Bewegungen auf dem Spielfeld verfolgte, ward mir auf einmal ganz sonderbar ums Gemüt und mir schien, als tauchte die hohe Mittagssonne Menschen und Dinge jäh in ein gleißendes Licht, das alles erstarren ließ, dergestalt, daß sich vor meinen Augen ein sinnloses Welttheater entspann. Es war dasselbe Gefühl, das ich später, als ich Ottiero Ottieri las, als das Gefühl der »alltäglichen Irrealität«
entdecken sollte, doch damals war ich erst dreizehn und inter-pretierte es mir auf meine Weise: Zum erstenmal zweifelte ich an der Existenz Gottes und hielt die Welt für eine Fiktion ohne Zweck und Ziel.
Verstört begab ich mich, kaum aus dem Stadion getreten, zur Beichte bei einem wissenden Kapuziner, der mir kopfschüttelnd zu verstehen gab, daß meine Idee recht sonderbar sei, denn an Gott hätten, ohne zu schwanken, immerhin so vertrauenswürdige Leute wie Dante, Newton, Manzoni, Gioberti und Fantappié geglaubt. Verwirrt durch solchen Konsens der Großen verschob ich meine Glaubenskrise um rund ein Jahrzehnt – doch seither, ich kann es nicht leugnen, hat sich Fußball für mich stets mit der Abwesenheit von Zweck und Ziel verbunden, mit der Vanitas allen Strebens und mit dem Gedanken, daß Gott nichts anderes sein (oder nichtsein) kann als ein Nichts. Und darum habe ich (wohl als einziger unter den Lebenden) Fußball stets mit den negativen Philosophien assoziiert.
Dies festgestellt, bliebe zu fragen, warum dann gerade ich hier über die Fußball-Weltmeisterschaft schreibe. Ganz einfach: weil die Redaktionsleitung des Espresso in einem Anfall von meta-physischem Taumel darauf bestand, daß über dieses Ereignis aus einer absolut sachfremden, ganz und gar äußerlichen Perspektive
Weitere Kostenlose Bücher