Über Gott und die Welt
Großveranstaltungen vor zahlendem Publikum wie zum Beispiel das Schlagerfestival von San Remo. Der Applaus-Befehl mußte also mit immanenten Mitteln gegeben werden, mit Signalen aus dem Innern des Schlagers selbst. Es galt, eine Situation zu erzeugen, in der das Publikum sich aus eigenem Antrieb zu applaudieren gedrängt sah, um die romantische Eruption des Sängers zu unterstützen, freudig und im Gefühl, aus freien Stücken zu handeln.
Wie aber erzeugt man nun ein Gefühl von Befreiung oder freudiger Überraschung? Indem man zunächst eine angespannte Situation voller Langeweile, endlosen Wiederholungen und auf die Spitze getriebener Redundanz erzeugt, ein unerträgliches Einerlei, um dann ein Signal zu geben, das durch Verheißung neuer und spannender Abenteuer das Ende der Langeweile an-kündigt. Es genügt, das Verfahren ein paarmal anzuwenden und das Befreiungssignal mit ein paar unschwer wiedererkennbaren Merkmalen auszustatten, und schon gleicht das Verhalten des Publikums dem der Pawlowschen Hunde: Glocke, Speichel.
Daher beginnen die Festivalschlager heute fast alle mit einem langsamen und in die Länge gezogenen Vorgeplänkel (»Strophe«
genannt), musikalisch überaus dürftig, ohne Reime, mit einer unbestimmten Melodie, die sich monoton in den Schwanz beißt oder sich dezidiert häßlich und abstoßend gibt. Damit dann, wenn der Moment des »Refrains« gekommen ist, nur noch die Lautstärke oder der Rhythmus erhöht und/oder das Signal einer halbwegs erkennbaren Melodie gegeben zu werden braucht, um das Publikum in eine leidenschaftliche Ovation ausbrechen zu lassen, die noch anschwillt, wenn sich der Klangkelch öffnet in einem Anschwellen des Orchesters und der hingerissenen Herzen.
Man denke nur an Schlager wie den von Endrigo beim letzten Festival in San Remo: ein undankbarer Anfang mit gewollt hoch-gestochenen und mechanischen Bildern (Kerosin, tote Pferde), eine Melodie in liturgischem Duktus, ein entscheidenes Fehlen von Metrik und Reim; dann plötzlich, angekündigt durch ein Lächeln, ein langsames Armeausbreiten und ein entsprechendes Anschwellen des Orchesters, die Worte »partirà, la nave partirà …«, und auf geht’s, auf einmal ist alles da, die Melodie, der Rhythmus, der Reim – alles, um dem Publikum zu beweisen, daß die Musik, die bisher nur als negierte vorhanden war, endlich gekommen ist.
Nur daß sich der Adressat des Schlagers, wenn Stil eine Logik hat und Erfi ndungen eine Manier haben, in einer schwierigen Richtung auf die Reise begibt. Denn um weiter so mitreißend und »informativ« (im kybernetischen Sinne) bleiben zu können, müßte (und muß in Zukunft immer dringlicher) der Moment des Ausbruchs einzigartig und punktförmig sein, isoliert im Zentrum der Komposition; und diese wird künftig, um mitrei-
ßend zu bleiben, das Warten auf jenen Moment immer mehr verlängern und die einleitende Frustration immer mehr betonen müssen. Infolgedessen ist es das Schicksal eines guten Schlagers, ganz und gar häßlich zu sein – bis auf einen kleinen, winzigen, wunderbaren Moment in der Mitte, der augenblicklich vorbei sein muß, damit er, wenn er dann wiederkehrt, von der gewaltig-sten Ovation begrüßt wird, die je gehört worden ist. Erst wenn der Schlager ganz widerlich ist, wird sich das Publikum endlich glücklich fühlen.
(1972)
Casablanca oder die Wiedergeburt der Götter
Vor zwei Wochen saßen hier alle Vierzigjährigen vor dem Fernseher, um wieder mal Casablanca zu sehen. Einen Kultfi lm, gewiß, aber dies ist kein Fall von gewöhnlicher Nostalgie. Wenn Casablanca in amerikanischen Studentenkinos gezeigt wird, begleiten dort auch die Zwanzigjährigen jeden großen Moment und jeden kanonischen Spruch (»Arrest the usual suspects« oder »Was that cannon fi re or is it my heart pounding?«, oder auch alle Stellen, wo Bogey »Kid« sagt) mit Ovationen, wie sie normalerweise für Treffer beim Baseball reserviert sind. Dasselbe habe ich auch in einer von Jugendlichen besuchten italienischen Kinemathek erlebt. Was also ist das Faszinierende an Casablanca?
Die Frage ist berechtigt, denn ästhetisch betrachtet, aus der Sicht einer anspruchsvollen Kritik, ist Casablanca ein sehr mäßiger Film.
Ein Comic strip in Bewegung, ein Schinken, in dem die psychologische Wahrscheinlichkeit sehr gering ist und die Theatercoups sich ohne vernünftigen Grund aneinanderreihen. Und man weiß auch, warum: Es gab kein Script, die Geschichte entstand erst beim Drehen, und bis zum
Weitere Kostenlose Bücher