Über Gott und die Welt
dem Mississippi.
Doch gerade weil die Archetypen hier alle versammelt sind, gerade weil Casablanca tausend andere Filme zitiert und jeder Schauspieler eine bereits woanders gespielte Rolle spielt, hört der Zuschauer unwillkürlich das Echo der Intertextualität. Casablanca zieht wie eine Duftwolke andere Situationen hinter sich her, die der Zuschauer in den Film hineinsieht, indem er sie unbewußt aus anderen Filmen nimmt, auch aus späteren wie To Have And Have Not, wo Bogart den Hemingwayschen Helden verkörpert; doch Bogart zieht die Hemingwayschen Konnotationen schon dadurch magnetisch auf sich, daß sein Rick, wie man erfährt, in Spanien gegen die Faschisten gekämpft hat (und in Äthiopien und vielleicht auch wie Malraux in China). Peter Lorre bringt Erinnerungen an Fritz Lang mit ein, Conrad Veidt gibt seinem Major Strasser eine Duftnote aus dem Kabinett des Doktor Caligari, er ist kein gefühlloser technologischer Nazi, sondern ein nächtlich-dämonischer Caesar.
So ist Casablanca nicht ein, sondern viele Filme, eine Anthologie.
Fast aus Zufall entstanden, ist er vermutlich von selbst entstanden, wenn nicht gegen den Willen seiner Autoren, so doch weit darüber.
Und deswegen funktioniert er, entgegen allen ästhetischen und cineastischen Theorien. Denn in ihm entfalten sich mit gleichsam tellurischer Kraft die Potenzen des Narrativen im Rohzustand, ohne den disziplinierenden Eingriff der Kunst. Und so können wir es akzeptieren, daß die Personen von einem Moment auf den anderen die Stimmung, die Moral und die Psychologie wechseln, daß die Verschwörer hüsteln, um sich zu unterbrechen, wenn ein Lauscher naht, und daß die munteren Flittchen weinen, wenn sie die Marseillaise hören. Wenn alle Archetypen schamlos herein-brechen, erreicht man homerische Tiefen. Zwei Klischees sind lächerlich, hundert Klischees sind ergreifend. Denn irgendwie geht einem plötzlich auf, daß die Klischees miteinander sprechen und ein Fest des Wiedersehens feiern. Wie höchster Schmerz an die Wollust grenzt und tiefste Perversion an die mystische Energie, gewährt äußerste Banalität einen Blick aufs Erhabene.
Etwas spricht anstelle des Regisseurs. Das Phänomen ist, wenn nicht noch mehr, zumindest verehrungswürdig.
(1975)
Ein Foto
Vielleicht erinnern sich manche noch an die letzten Minuten von »Radio Alice«21, als die Polizei den umstellten Sender in der Nacht stürmte und die Hörer zu Ohrenzeugen des Sturms werden konnten. Eins hat damals sicherlich viele gewundert: Während draußen die Polizei an die Tür schlug und drinnen die Sprecher mit erregter Stimme berichteten, was geschah, verglich einer von ihnen die Situation, um sie den Hörern möglichst plastisch zu schildern, mit einer Filmszene. Das war zweifellos einmalig: Da erlebte jemand eine traumatische Situation, als ob er im Kino wäre.
Interpretieren ließ sich das nur auf zweierlei Weise. Einerseits auf die traditionelle: Das Leben wird als ein Kunstwerk erlebt.
Andererseits mit einer These, die uns zu einigen weitergehenden Überlegungen zwingt: Das bildliche Werk (der Kinofi lm, die TV-Reportage, das Wandplakat, der Comic strip, das Foto) ist heute bereits ein integraler Bestandteil unseres Gedächtnisses. Was etwas ganz anderes ist und eine fortgeschrittene Hypothese zu bestätigen scheint, nämlich daß die neuen Generationen sich, als Bestandteile ihres Verhaltens, eine Reihe von Bildern einverleibt haben, die durch den Filter der Massenmedien gegangen sind (und von denen einige aus den entlegensten Zonen der experi-mentellen Kunst unseres Jahrhunderts kommen). In Wahrheit braucht man nicht einmal von neuen Generationen zu sprechen: Es genügt, zur mittleren Generation zu gehören, um erfahren zu haben, wie sehr das gelebte Leben (Liebe, Angst oder Hoffnung) durch »schon gesehene« Bilder gefi ltert wird: Überlassen wir es den Moralisten, diese Lebensweise »aus zweiter Hand« (oder durch »intermediäre Kommunikation«) zu mißbilligen. Bedenken wir, daß die Menschheit nie anders gelebt hat, daß sie vor Nadar und den Gebrüdern Lumière nur andere Bilder benutzt hat, solche aus den Reliefs der heidnischen Tempel oder aus den Miniaturen der Apokalypse.
Nun wird sich ein anderer Einwand erheben, diesmal nicht von seiten der Traditionspfl eger: Ist es nicht ein besonders krasser Fall von wissenschaftlicher Neutralitätsideologie, wenn man sich angesichts neuer Verhaltensweisen und dramatischer, brandaktueller Ereignisse immer noch und bloß
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