Über Gott und die Welt
letzten Moment wußten weder der Regisseur noch die Drehbuchschreiber, ob nun Ilsa mit Victor oder mit Rick abfl iegen würde. Die scheinbar so wohlkalkulier-ten Regieeinfälle, die immer wieder spontanen Applaus erhalten ob ihrer hanebüchenen Unverfrorenheit, waren in Wirklichkeit lauter Ad-hoc-Entscheidungen in verzweifelter Zeitnot. Ja, was?
Wie konnte dann aus einer solchen Kette von Zufälligkeiten ein Film entstehen, der noch heute, wenn man ihn zum zweiten, zum dritten, zum vierten Mal sieht, Applaus hervorruft wie ein Bravourstück, das man am liebsten gleich noch einmal sähe, oder Begeisterung wie ein eben entdecktes Meisterwerk? Was wird da so Großartiges geboten? Eine phantastische Starbesetzung, gewiß, aber das allein kann es nicht sein.
Da sind er und sie, er bitter, sie zärtlich, ein romantisches Paar, aber das hat man schon besser gesehen. Casablanca ist nicht Stagecouch, ein anderer zyklisch wiederkehrender Kultfi lm: Stagecouch ist in jeder Hinsicht ein Meisterwerk, alles stimmt, jedes Stück sitzt an der richtigen Stelle, die Charaktere sind in jedem Moment gerechtfertigt, und die Handlung (auch das zählt) stammt, jedenfalls für den ersten Teil, von Maupassant.
Also was? Also ist man versucht, Casablanca zu lesen, wie Eliot Hamlet gelesen hat. Dessen Faszinosum er nicht auf seine Gelungenheit zurückführte, im Gegenteil, er zählte das Stück eher zu den weniger gelungenen Werken Shakespeares, sondern gerade auf seine Mängel: Hamlet sei das Ergebnis einer etwas verunglückten Mischung aus mehreren früheren Fassungen, einer mit dem Thema der Rache (und dem Wahnsinn als bloßer Kriegslist), und einer mit dem Thema der Gewissenskrise über die Schuld der Mutter. Daher die Disproportion zwischen Hamlets gespannter Erregung und der Undeutlichkeit oder Inkonsistenz des Verbrechens der Mutter. So daß nun alle Welt das Stück schön, weil interessant fände, im Glauben, es sei interessant, weil schön.
Mit Casablanca ist, in kleineren Proportionen, das gleiche geschehen: Unter dem Zwang, eine Handlung aus dem Stand zu er-fi nden, haben die Autoren kurzerhand alles hineingetan. Und um alles hineinzutun, haben sie ins Repertoire des bereits Erprobten gegriffen. Wenn man aus dem Repertoire des bereits Erprobten eine beschränkte Auswahl trifft, gelangt man zum Genrefi lm, zum Serienfi lm oder gar zum Kitsch. Wenn man jedoch mit vollen Händen hineingreift und wirklich alles nimmt, gelangt man zu einer Architektur wie der von Gaudis Sagrada Familia. Man gerät ins Taumeln, man streift die Genialität.
Aber vergessen wir jetzt, wie der Film gemacht worden ist, und sehen wir uns an, was er zeigt. Er beginnt mit einem magischen Ort per se: Marokko, Exotik, es erklingt eine Art arabische Melodie, die in die Marseillaise übergeht. Beim Eintritt in Ricks Lokal hört man Gershwin. Afrika, Frankreich, Amerika. Sofort bricht ein Knäuel von Ewigen Archetypen herein: Grundsituationen aller Geschichten aus allen Zeiten. Normalerweise reicht eine archetypische Situation für eine Geschichte. Und die entwickelt sich dann. Zum Beispiel die Unglückliche Liebe. Oder die Flucht.
Casablanca gibt sich damit nicht zufrieden: Alles muß rein. Die Stadt ist der Ort eines Durchgangs, Transitstation auf dem Weg ins Gelobte Land (oder, wenn man so will, nach Nordwesten).
Um ins Gelobte Land zu gelangen, muß man jedoch eine Prüfung bestehen: das Warten (»und sie warten und warten und warten«, sagt die Sprecherstimme am Anfang). Um aus dem Warteraum in das Gelobte Land zu gelangen, braucht man einen Magischen Schlüssel: das Transitvisum. Im Kampf um die Eroberung dieses Schlüssels entzünden sich Leidenschaften. Das Mittel, ihn in die Hand zu bekommen, scheint eine Zeitlang das Große Geld zu sein (das ein paarmal auftritt, vorwiegend in Gestalt des Tödlichen Spiels oder des Roulettes); doch am Ende entdeckt man, daß der Schlüssel nur durch ein Großes Geschenk zu bekommen ist: das Geschenk des Visums, aber auch das Geschenk, das Rick mit seinem Liebeswunsch macht, indem er ihn und sich opfert. Denn dies ist auch die Geschichte eines Reigens begehrli-cher Wünsche, von denen am Ende nur zwei in Erfüllung gehen: der von Victor Laszlo, dem Reinen Helden, und der des jungen bulgarischen Ehepaars. Alle anderen, die unreine Leidenschaften haben, scheitern.
So triumphiert als weiterer Archetypus die Reinheit. Die Unreinen gelangen nicht ins Gelobte Land, sie verschwinden vorher. Aber sie gelangen zur Reinheit,
Weitere Kostenlose Bücher