Über Gott und die Welt
immer wieder darauf beschränkt, sie zu analysieren, zu defi nieren, zu interpretieren und zu sezieren? Kann man defi nieren, was sich per defi nitionem jeder Defi nition entzieht? Nun denn, man soll mutig bekennen, was man glaubt: Nie war die politische Aktualität so stark wie heute durchdrungen und motiviert und überreichlich alimentiert vom Symbolischen. Sich die Mechanismen des Symbolischen, durch das wir uns bewegen, klarzumachen, heißt Politik zu machen. Sie nicht zu erkennen, führt zu falscher Politik. Sicher wäre es falsch, die politischen und ökonomischen Fakten auf die symbolischen Mechanismen zu reduzieren. Aber es wäre ebenso falsch, diese Dimension zu ignorieren.
Zweifellos gab es viele schwerwiegende Gründe für den unguten Ausgang des Auftritts von Lama an der Universität Rom22, aber einer darf nicht vernachlässigt werden: der Gegensatz zwischen zwei Theater- oder Raumkonzeptionen. Lama präsentierte sich auf einem (wie immer auch improvisierten) Podium, also gemäß den Regeln einer frontalen Kommunikation, wie sie für die Raumorganisation der Gewerkschaften und der Arbeitermassen typisch ist, vor einer Studentenmasse, die andere Aggregations-und Interaktionsformen entwickelt hat: dezentrale, mobile, scheinbar desorganisierte. Die Studenten haben den Raum in anderer Weise organisiert, und so kam es an jenem Tag in der Universität auch zu einem Zusammenstoß zwischen zwei Konzeptionen der Perspektive – sagen wir: einer nach Brunelleschi und einer kubistischen. Sicher wäre im Unrecht, wer die ganze Geschichte auf diese Faktoren reduzieren wollte, aber im Unrecht ist auch, wer diese Interpretation als Intellektuellenfl ause abtut.
Die katholische Kirche, die Französische Revolution, die Nazis, die Leninisten und Maoisten, aber auch die Rolling Stones und die Fußballvereine haben immer sehr gut gewußt, in welchem Maße die Raumaufteilung Religion, Politik und Ideologie ist.
Geben wir also dem Räumlichen und dem Visuellen wieder den Platz, der ihnen in der Geschichte der politischen und sozialen Verhältnisse zusteht.
Und kommen wir nun zu einem anderen brandaktuellen
Phänomen unserer politischen Gegenwart. In den letzten Monaten sind im Innern jenes bunten und wimmelnden Treibens, das »die Bewegung« genannt wird (anderswo sagt man: »die Alternativscene«, A.d.Ü.), Pistoleros aufgetaucht: Typen mit der P 38, daher auch »pitrentottisti« genannt. Von verschiedener Seite wurde gefordert, daß die Bewegung sie als Fremdkörper ausscheiden solle, eine Forderung, die sowohl von innen wie auch von außen kam. Doch es schien, daß die Bewegung sich schwer damit tat, wobei verschiedene Elemente mitspielten. Sagen wir zusammenfassend: Viele in der Bewegung fühlten sich nicht bereit, Kräfte als fremd zu betrachten, die, so inakzeptabel und selbstmörderisch sie sich auch äußerten, immerhin doch eine
»Marginalisierungsrealität« auszudrücken schienen, die man nicht verleugnen wollte. Ich resümiere hier Diskussionen, von denen wir alle gehört haben. Kurz gefaßt hieß es: Sie liegen falsch, aber sie gehören zur Massenbewegung. Es war eine harte und zähe Debatte.
Doch auf einmal, seit letzter Woche, konstatieren wir nun so etwas wie eine plötzliche Klärung all jener Diskussionselemente,
die bisher im Ungewissen geblieben waren. Mit einem Schlag, im Verlauf eines einzigen Tages, kam es zu entschiedenen Distanzierungen, und plötzlich sind die Pistolenmänner ganz isoliert. Warum gerade jetzt? Warum nicht früher? Gewiß, die Schießereien in Mailand haben vielen zu denken gegeben, aber die Schießereien in Rom waren auch nicht von Pappe.23 Was ist auf einmal so Neues und Anderes passiert? Versuchen wir, eine Hypothese zu formulieren, nicht ohne noch einmal zu betonen, daß keine Erklärung je alles erklärt, sondern sich bestenfalls in ein Wechselverhältnis von Erklärungen einfügt. Es ist ein Foto erschienen.
Fotos sind viele erschienen, aber eins ist durch alle Zeitungen und Magazine gegangen, nachdem es zuerst vom Corriere d’Informazione publiziert worden war. Es ist das Foto jenes Vermummten, der allein, mitten auf der Straße, zur Seite gedreht, die Beine gespreizt, die Arme gestreckt, mit beiden Händen eine Pistole hält, schußbereit. Im Hintergrund sieht man noch andere Gestalten, aber die Struktur des Fotos ist von einer klassischen Einfachheit: Die Zentralfi gur dominiert solo.
Wenn es erlaubt ist, dergleichen Fälle ästhetisch zu kommentieren (und ich
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