Ueber Gott und die Welt
Gegenteil von Gefühlsfrömmigkeit ist. Er erweist sich gerade im Durchhalten bei Dunkelheit und Trockenheit des Gefühls.
Übrigens beschuldigte Fénelon den französischen Episkopat, jansenistenfreundlich zu sein. Er betonte, dass er als Erzbischof von Cambrai, das kirchenrechtlich zum Reich gehörte, der französischen Bischofskonferenz nicht angehöre. Seine Favoriten sind die Jesuiten und die Sulpicianer. Fénelon geht also politisch als Verlierer aus dem Streit hervor, aber moralisch als unbestrittener Sieger. Leibniz nennt ihn »den unvergleichlichen Fénelon«.
Im Streit um den »amour pur« geht es immer auch um dessen Gegenüber, den »amour de soi« und den »amour propre«. Worin unterscheiden sich die beiden Letzteren?
Rousseau, der einmal schreibt, er wünschte sich, Fénelons Lakai zu sein, um sich zu seinem Kammerdiener heraufzudienen, grenzt den »amour propre« und den »amour de soi« gegeneinander ab. Das eine könnte man mit Eigenliebe übersetzen, das andere mit Selbstliebe. »Amour de soi« ist unschuldiger Teil der Natur des Menschen. Er kann seinen Nächsten nicht »wie sich selbst« lieben, wenn er sich nicht zunächst selbst liebt. »Amour propre« aber bezeichnet die Verfassung des Menschen, der sich selbst als Mittelpunkt des Universums versteht, der also sich selbst »über alles« liebt.
Gehört der »amour propre«, die Eigenliebe, die sich bis zur Idolatrie des Selbst und zur Verachtung Gottes steigert, nicht zur Signatur der Moderne?
Das Problem ist nicht neu. Schon Augustinus teilt die Menschheit in zwei Gruppen. Die eine ist durch die Liebe Gottes motiviert bis zur Geringschätzung des eigenen Ich und die andere durch die Selbstliebe bis zur Geringschätzung Gottes.
Fénelon, das hat Bossuet richtig gesehen, neigt in seiner Lehre vom »amour pur« zum Extrem, so dass man den Eindruck hat, es solle der »amour de soi«, nicht nur der »amour propre« überwunden werden. Das aber wäre gegen die Natur des Menschen.
Für Thomas von Aquin ist das aufgrund seiner teleologischen Interpretation der Natur eigentlich kein Problem. Bossuet und Fénelon sind aber eben Cartesianer, Anti-Teleologen, beide mit einer mechanistische Auffassung von der Natur. Die Natur des Menschen ist einfach egoistisch, und weil sie egoistisch ist, muss sie sterben.
Bei Thomas hingegen ist die Natur des Menschen schon auf etwas hin geordnet, geht schon über sich hinaus. »Ein jedes natürliche Ding, welches in dem, was es selbst ist, einem anderen zugehört, neigt sich fundamentaler und intensiver zu dem hin, welchem es zugehört, als zu sich selbst.« (Sum. theol. I. qu 60, art. 5) Als Beispiel nennt er die Lunge des Menschen. Ihr geht es nicht um sich, um die Lunge selbst, sondern um den Menschen, der durch Atmung am Leben erhalten wird. Dem Teil geht es um das Ganze. Darum liebt der Mensch von Natur Gott mehr als sich selbst. Beiden, sowohl Fénelon als auch Bossuet, ist dieser Satz des Thomas unbekannt.
Ihre Habilitationsschrift enthält ein Kapitel über »Bürgerliche Ethik und nichtteleologische Ontologie«. Bei Letzterem handelt es sich um das, was Sie eine Inversion, eine Umkehrung der Teleologie nennen. Danach ist jedes Seiende, auch jeder Mensch, »durch die Tendenz zur eigenen Erhaltung definiert«. Diese neue, bürgerliche Ontologie bildet für Sie den Hintergrund der Bossuet-Fénelon-Debatte. Schlagen die Gegner der Lehre Fénelons von der reinen Gottesliebe, indem sie vom »Glücksverlangen des Menschen« ausgehen, den Weg dieser invertierten Teleologie ein?
Ich habe damals den Begriff »bürgerliche Ontologie« gewählt, die den Gedanken einer Selbsttranszendenz natürlicher Prozesse verwirft zugunsten einer Teleologie bloßer Selbsterhaltung. Spinoza hatte das auf die einfache Formel gebracht: »Das Wesen der Dinge besteht im Streben, sich zu erhalten.«
Heute ist Funktionalismus Standard in der Biologie, aber dieser Funktionalismus bezieht sich nur auf Selbsterhaltung. Im klassischen Verständnis ist das bloße Dasein der Dinge nur die Voraussetzung für das, was Aristoteles »zweite Wirklichkeit«nennt, das heißt »Selbstverwirklichung«. Selbstverwirklichung ist mehr als bloße Erhaltung dessen, was ohnehin schon ist. Aristoteles unterscheidet
zēn
und
eu-zēn,
bloßes Leben und gutes Leben.
Für die invertierte Teleologie ist gutes Leben nichts anderes als Perfektionierung der Erhaltungsbedingungen bloßen Lebens. Auch Aristoteles kennt natürlich die Tendenz der
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