Ueber Gott und die Welt
Selbsterhaltung, aber bezeichnenderweise interpretiert er diese als Tendenz aller endlichen Wesen, sich dem Göttlichen anzunähern. Schopenhauer hat dann später den nihilistischen Charakter dieser Tendenz behauptet, einer Tendenz ohne Transzendenz. Nietzsche kritisiert seinerseits die Schrumpfform der Teleologie bei Spinoza, und da er kein sinnstiftendes Telos mehr kennt, bleibt ihm das bloße »Kraftauslassen« als einziger Sinnersatz. Von der »Unterordnung des Daseins unter die Bedingungen seiner Erhaltung« spricht die »Dialektik der Aufklärung«. Dieser Halbsatz hat mir damals die Einsicht in jene Zusammenhänge erschlossen, die ich mit dem Begriff der »invertierten Teleologie« charakterisieren wollte.
Ich habe damals den Begriff der bürgerlichen Ontologie verwendet, weil mir schien, dass diese Selbsterhaltungsteleologie, die auch im Mittelpunkt des Denkens von Thomas Hobbes und Spinoza steht, die Interessenslage des aufkommenden Bürgertums widerspiegelt. Die Kreise um Fénelon stammten vorwiegend aus der Hocharistokratie. Hier stieß die Absolutismuskritik des »Télémaque« auf Resonanz. Hier wurde ein Ethos der Hingabe und des Opfers hochgehalten.
Der rechnende Sinn des Bürgertums hingegen drehte sich vor allem um die eigene Erhaltung. Bossuet war ein Bourgeois. Zu diesen Überlegungen hat mich unter anderem ein Buch von Lucien Goldmann »Le Dieu caché« angeregt. Der marxistische Historiker hatte ein Buch über Pascal und den Jansenismus geschrieben und versucht, soziologisch die Positionder Jansenisten einer bestimmten Klasse zuzuordnen, der »noblesse de robe«, dem Amtsadel.
Goldmanns Buch gehört zu den wenigen marxistischen, die ich wirklich eindrucksvoll fand, wenn ich auch nie auf den Gedanken kam, den Inhalt eines Gedankens durch die Interessenlage dessen zu definieren, der ihn fasst und ausspricht. Aber
dass
ein Gedanke zu einem bestimmten Zeitpunkt von bestimmten Menschen gedacht wird, folgt Dispositionen, die sich nicht allein aus dem Inhalt des Gedachten ergeben.
Diese schon lange zuvor von Max Scheler ausgearbeitete wissenssoziologische Perspektive ging in mein Fénelon-Buch ein und brachte mich auf den Begriff »bürgerliche Ontologie«. Die Haltung der Aristokratie und des Bürgertums erschließt sich einem auch durch das Motto, das ich an den Anfang meiner Untersuchung gestellt habe. Es ist dem »Don Quixote« entnommen: »›Was für ein dummer Wicht du bist, Sancho!‹, versetzte Don Quixote. ›Weißt du nicht, dass es nach Ritterbrauch einer Dame große Ehre bringt, wenn ihr viele fahrende Ritter dienen, die sonst keinen Wunsch haben, als ihr um ihrer selbst willen zu dienen, und keinen anderen Lohn für ihr ausdauerndes Streben fordern als die Erlaubnis, ihr Ritter zu sein?‹ ›Das ist ja genauso, wie ich es habe predigen hören‹, sprach Sancho Pansa, ›unsern Herrgott soll man auch um seiner selbst willen lieb haben, ohne an Himmel und Hölle zu denken; und dabei möchte ich ihn doch viel lieber um dessen willen lieben und ihm dienen, was er zu tun vermag.‹«
Wie kann man heute den »amour pur« verteidigen?
Dort, wo überhaupt etwas ernst genommen wird, hat sich die Meinung Fénelons durchgesetzt. Das ist erstaunlich. Die Perspektive der ewigen Seligkeit und ewigen Verdammnis entfaltetunter jüngeren Menschen wenig motivierende Kraft. Wer an das ewige Leben glaubt, der muss es erstaunlich finden, wenn jemanden die Frage gleichgültig lässt, was denn sein Schicksal in alle Ewigkeit sein wird. Fénelon missbilligt diese Gleichgültigkeit übrigens. Die ersten Stufen des spirituellen Weges sind für ihn dieselben wie für Bossuet, also eudämonistisch.
»Amour pur« ist etwas für »Fortgeschrittene«. Aber es scheint doch bei vielen Menschen eine Suche zu geben nach etwas, dem man sich ganz und gar hingeben kann, ohne auf das eigene Interesse zu reflektieren. Wenn jemand einem anderen Menschen etwas bewundernswert Gutes tut, vielleicht unter Aufwendung großer Mühen und Opfer, dann ist es doch eine Minderung der Bewunderung für diesen Menschen, wenn man sagt: »Er hatte sowieso nur sein Eigeninteresse im Auge.« Das sagen eigentlich nur Wissenschaftler, Psychologen zum Beispiel. Sie kennen nur Eigeninteresse. Auch dem Altruismus geht es nur um die Befriedigung eines eigenen Bedürfnisses. Normale Menschen denken eigentlich nicht so. Und wenn sie sagen, der ewige Lohn motiviere sie wenig, dann liegt die Vermutung nahe, dass sie an den ewigen Lohn gar nicht
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