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Ueber Gott und die Welt

Ueber Gott und die Welt

Titel: Ueber Gott und die Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Spaemann
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aus?
    Ja, der Philosoph ist derjenige, der die Erinnerung kultiviert. Wer bei der Philosophie nur auf das Resultat sieht, sagt Hegel, der hat gar nichts verstanden. Das Resultat ist nur im Zusammenhang mit dem Weg, auf dem man zu ihm gelangt ist, von Bedeutung.
    Wie sieht Fénelon den Zusammenhang von Spontaneität und Reflexion?
    Die Antwort findet sich, wenn man ihn in Relation zu den französischen Moralisten, La Rochefoucauld beispielsweise, sieht. Diese machen ja überall nur »Amour propre« aus. Sie meinen, dem Menschen gehe es eigentlich immer nur um sich selbst. Ihre Psychologie besteht in Entlarvung.
    Fénelon steht für das, was Hegel »sich vollbringenden Skeptizismus« nennt. Seine Entdeckung ist: Die entlarvende Reflexion ist selbst noch Ausdruck des amour propre. Der Wunsch, mich der Selbstlosigkeit meiner Motive zu vergewissern, ist selbst Ausdruck des amour propre, der diesen entlarvt. Erst der Verzicht auf die reflexive Vergewisserung stellt die Reinheit wieder her.
    Aufgrund des Erziehungsromans »Émile« gilt Jean-Jacques Rousseau gemeinhin als der Entdecker der Kindheit in der Neuzeit. In Ihrem Buch »Spontaneität und Reflexion« widmen Sie ein Kapitel dem Thema »Der ›Geist der Kindheit‹ und die Entdeckung des Kindes«. War schon Fénelon der eigentliche Entdecker?
    Die Spiritualität, die Fénelon lebte und lehrte, war vor allem eine Spiritualität der Kindlichkeit. Keine Aufforderung kehrt in seiner geistlichen Korrespondenz so oft wieder wie die, zum Kind zu werden – in Anknüpfung an den Satz aus dem Evangelium (Matth.18,3): »Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie Kinder, so werdet ihr nicht in das Himmelreich eingehen.« Er war immer auf der Suche nach Unmittelbarkeit, und das Kind verkörpert für ihn den Zustand jenseits der Reflexion, es ist noch nicht in die Reflexion eingetreten. Es geht darum, den Geist der Kindheit wiederzugewinnen, der verlorengegangen ist.
    Das erinnert nicht nur an Kleists Essay »Über das Marionettentheater«, sondern auch an Hegel, der in der »Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften« schreibt: »Das geistige Leben in seiner Unmittelbarkeit erscheint zunächst als Unschuld und unbefangenes Zutrauen; nun aber liegt es im Wesen des Geistes, dass dieser unmittelbare Zustand aufgehoben wird, denn das geistige Leben unterscheidet sich dadurch vom natürlichen und näher vom tierischen Leben, dass es nicht in seinem Ansichsein verbleibt, sondern für sich ist. Dieser Standpunkt der Entzweiung ist demnächst gleichfalls aufzuheben, und der Geist soll durch sich zur Einigkeit zurückkehren.« Weiter unten im selben Text findet sich der Satz: »Jene Einigkeit, die wir in den Kindern anschauen als eine natürliche, soll das Resultat der Arbeit und der Bildung des Geistes sein.«
    Fénelon als Entdecker des Geistes der Kindheit und in diesem Punkt ein Vorläufer von Rousseau, Kleist und Hegel – war es diese seine Wirkung auf die Nachwelt, auf die Sie gestoßen waren und auf die Sie eine neue Aufmerksamkeit richten wollten?
    Meine Fragen richteten sich primär darauf, wie man Ende des 17. Jahrhunderts plötzlich auf den »Geist der Kindheit« kommt. Warum spielt das eine so große Rolle in der mystischen Bewegung dieser Zeit? Ich bemerkte, es gibt einen Zusammenhang mit der Kind-Jesu-Verehrung im 16. Jahrhundert, die in Spanien begann. Zum Beispiel trug Teresa von Avila immer eine kleine Statue des Jesuskindes bei sich. Das Prager Jesulein in der dortigen Karmeliterkirche stammt aus diesem Kontext und wurde Mitte des 17. Jahrhunderts das Zentrum einer in Mitteleuropa weitverbreiteten Kindheit-Jesu-Verehrung.
    Man muss diese Bewegung im Zusammenhang mit dem Rationalismus sehen. Für Descartes war Kindsein eigentlich ein defizienter Modus des Menschseins, denn der Mensch ist wesentlich ein
animal rationale
, ein vernünftiges Tier. Descartes betrachtete es als Unglück, dass Menschen immer wieder als Kinder beginnen, statt dass jeder Mensch genau dort anfängt, wo die anderen aufgehört haben.
    Die Jansenisten waren Cartesianer. Für sie war es die tiefste Erniedrigung Gottes, dass er ein Kind wurde. Dieses Opfer übertrifft noch das Kreuz. Nachfolge Christi heißt daher nicht nur, das Kreuz auf sich nehmen, sondern Kind werden, den Geist der Kindheit pflegen, und das heißt auch, wie Madame Guyon lehrte, »vor Gott spielen«. Das war mit dem düsteren Ernst der Jansenisten kaum vereinbar. Die »neuen Mystiker« waren gewissermaßen umgekehrte

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