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Ueber Gott und die Welt

Ueber Gott und die Welt

Titel: Ueber Gott und die Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Spaemann
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nehmen zu können, bleibt dem Philosophen nichts anderes übrig, als die Dinge aus seiner Perspektive zu sehen, und zwar so, als ob sie auf ihn hinausliefen, und gleichzeitig zu wissen, dass es sich dabei um eine Art optische Täuschung handelt. Denken unterscheidet sich jedoch von sinnlichem Wahrnehmen dadurch, dass es sich selbst relativiert und die Möglichkeit eines großen blinden Flecks unterstellt.
    Aber das heißt nicht, dass Erkenntnis nur aus blinden Flecken besteht. Wir können Sätze formulieren, deren Wahrheitsanspruch nicht berührt wird durch die Kontexte, in denen sie gesprochen werden. Die Integration eines Abschlussgedankens in einen neuen Kontext mit neuem Abschluss macht den Gedanken nicht unwahr. Die Geschichte des Denkens ist voll blinder Flecken. Aber sie ist nicht die Geschichte blinder Flecken.
    Kurt Flasch hat vor Jahren eine interessante Rezension meines Fénelon-Buchs geschrieben. Er fand, dass ich mir im Grunde das Urteil schon zu Beginn des Vorworts gesprochen habe, wo ich schreibe, man könne von großen Geistern der Vergangenheit wie Fénelon über die Sache selbst, zum Beispiel über Liebe, etwas lernen. Flasch hielt das für abwegig. Frühere Denker gehören der Vergangenheit an. Man kann sie zum Gegenstand interessanter Bücher machen, so wie Flasch es selbst als Spezialist für die Philosophen des Mittelalters tut. Aber was diese Philosophen gedacht haben, ist für uns nur ein kurioses Gedankenspiel. Man kann durch Studium etwas
über
Augustinus lernen, nicht aber
von
ihm.
    Was wäre der Gegenentwurf zur Auffassung von Kurt Flasch?
    Da denke ich an einen Text, den ich vorbildlich finde: Hegels Kapitel über Aristoteles in den »Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie«. Ich kenne nichts Besseres über Aristoteles. Natürlich ist auch Hegel der Meinung, wirklich verstehen könne man das, was Aristoteles denkt, eigentlich erst, wenn man sich Hegels Philosophie angeeignet hat. Aber das ändert nichts daran, dass er etwas entdeckt hat und dass seine Interpretation der philosophischen Intention des Aristoteles eine Tiefe des Verständnisses offenbart, die weit über der seiner Zeitgenossen steht. Noch heute kann man davon lernen.
    Und so habe ich auch meine Arbeit über Fénelon verstanden. Auch er hat seinen eigenen blinden Fleck nicht gesehen, wie seine extreme Interpretation der Selbstverleugnung und der Metapher der Dunkelheit nahelegt. Aber das bedeutet nicht, dass er nichts sieht. Er sieht etwas, und davon kann man lernen, es auch zu sehen. Die These, heute habe das, was jemanden wie Fénelon, der vor 300 Jahren lebte, bewegte, keine Bedeutung mehr, kann ich nicht verstehen.
    Gibt es nicht noch eine problematische Form, mit Denkern der Vergangenheit umzugehen? Ein Beispiel: Man versucht zu verstehen, was Verstand, was Vernunft bedeutet und worin sich beide unterscheiden. Da stellt sich der mit stupendem Wissen beschlagene Philosophiehistoriker ein, der einen über die Bedeutung dieser Begriffe bei Platon und Aristoteles, bei Kant und Hegel belehrt. Man fühlt sich in der Sache ausreichend informiert und zerbricht sich nicht weiter den Kopf, was Verstand, was Vernunft sei. Ist eine solche Einstellung nicht doch ein Ausweichen vor der gedanklichen Anstrengung? Wird da die Mühe des Denkens nicht suspendiert durch gelehrtes Wissen über die Verwendung dieser Begriffe bei Philosophen der Vergangenheit?
    »Verstand – Vernunft« – das ist ein gutes Beispiel. Das Historische Wörterbuch widmet dem Begriffspaar ganze 230 Spalten. Es musste ausnahmsweise das Paar sein, weil die Begriffe oft nur im Zusammenhang definiert werden. Wenn wir sie nicht im Bezug zueinander definieren, sind sie in der Regel austauschbare Synonyme. Die Geschichte der Begriffe ist die Geschichte des Gedachtwerdens der Welt. Eindeutig definiert werden sie eigentlich erst bei Kant und im Deutschen Idealismus. Das ganze Drama menschlichen Selbstverhältnisses spiegelt sich in dieser Geschichte. Und ohne Kenntnis dieses Dramas bleibt das Begriffspaar ein
caput mortuum
.
    In der Analytischen Philosophie herrschte lange Zeit eine große Unkenntnis der Geschichte von Theoremen und Begriffen, mit der Folge, dass Probleme erörtert werden weit unter dem Niveau von Diskussionen, die schon vor anderthalb Jahrtausenden über das Thema stattgefunden haben. Wenn Philosophiegeschichte eine Leiter ist, auf der wir hinaufsteigen zu einem adäquaten Verständnis eines Problems, dann kann man Wittgenstein kaum folgen, wenn er

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