Ueber Gott und die Welt
Cartesianer. Kindheit war für sie nun ein Zustand, der seinen Wert nicht nur als Vorstadium erwachsenen Menschseins, sondern insich selbst hat. Rousseaus sogenannte »Entdeckung des Kindes« muss in diesem Kontext gesehen werden. Die Resonanz, die Rousseau in Europa fand, war ungeheuer.
Spielt die Bedeutung des Kindseins nicht eine große Rolle in der Geschichte philosophischer Pädagogik?
Doch, gewiss. Seit Rousseau sieht die Pädagogik das Kind nicht bloß als Vorstufe des Erwachsenseins, sondern als eine Lebensform und Lebensphase, die ihre eigene Dignität besitzt. Übrigens muss man in diesem Zusammenhang Fénelons Schrift über Mädchenerziehung und die »Abenteuer des Telemach«, den meistgelesenen Roman seiner Zeit, erwähnen. Fénelon schrieb das Buch für den Enkel Ludwigs XIV., dessen Erzieher er war. Er flocht hier seinen antiabsolutistischen Fürstenspiegel in einen der Odyssee nachgebildeten Abenteuerroman, während Bossuet für seinen Zögling, den Dauphin, eine Geschichte Frankreichs im »hohen Stil« verfasste.
In Port Royal, dem Zentrum der Jansenisten, regierten Erziehungsprinzipien, die durch Unterdrückung weltlicher Vergnügungen himmlische Freuden erwecken sollten. Fénelon definierte das Reich der Gnade nicht durch »délectations supérieures«, die auf der Unterdrückung natürlicher Vergnügen beruhen. Um die Natur sterben zu lassen, muss sich die Natur erst einmal entfalten. In einem Erziehungsroman hat der mystische Weg noch gar keinen Platz.
Meine These über den Ursprung der Entdeckung des Kindes ist übrigens kaum rezipiert worden, wohl dagegen die ontologische These einer »Inversion der Teleologie«, die vor allem von Dieter Henrich und Hans Blumenberg diskutiert wurde.
Der Erzbischof von Cambrai, Fénelon, hat er bei Ihnen – über die Tatsache hinaus, dass er Gegenstand Ihrer langjährigen Forschungsarbeit war – einen persönlichen Eindruck hinterlassen?
Als ich im Archiv von Saint Sulpice in Paris arbeitete und seine Briefe las, faszinierte mich seine Handschrift. Ich kannte seine Briefe natürlich auch gedruckt, aber die Lektüre der Handschrift war für mich eine Art von persönlicher Begegnung. Es war wie das Gesicht eines Menschen, von dem man sich nicht gern wieder verabschiedet.
Dabei führte mich ursprünglich nicht die Figur Fénelon zu meinem Thema, sondern seine Kontroverse mit Bossuet. Meine Frage war: Wie kommt es, dass zwei bedeutende Geister der Zeit, die beide in derselben Tradition stehen – in der christlichen Überlieferung der Form richtigen Lebens –, sich in einen so existentiellen Streit verwickeln? Was ist geschehen, dass diese Tradition zweideutig wird und aus ihr entgegengesetzte Konsequenzen gezogen werden können?
Die Antwort ergab sich für mich aus den Überlegungen zum Problem der Teleologie, die mich bereits bei der Arbeit über de Bonald leiteten. Im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit verschwindet die teleologische Naturinterpretation. Damit entfällt die Voraussetzung der Tradition, die menschliche Natur strebe nach etwas, ziele über sich hinaus. Was Natur sei, wird zweideutig.
Thomas von Aquin sagt, dass der Mensch von Natur Gott mehr liebt als sich selbst. Bei Fénelon aber heißt es, die menschliche Natur muss sterben, weil sie wesentlich egoistisch sei, nur auf Selbsterhaltung und Selbstbehauptung gerichtet. Dieser Gedanke findet sich schon bei Telesio, den Francis Bacon den
hominum novorum primus
nennt, und bei Campanella, wie dann später bei Bacon, Hobbes, Spinoza, aber auch bei Bossuet, für den die Gottesliebe eine Funktionder menschlichen Selbsterhaltung und des menschlichen Glücksstrebens ist.
Was sich mir dann zeigte, möchte ich so beschreiben: Unter der Voraussetzung einer nichtteleologischen Betrachtung der Natur ist Fénelon derjenige, der fester in der Tradition steht und sie besser verstanden hat als Bossuet. Paradoxerweise gilt in der Rezeptionsgeschichte Frankreichs Fénelon als Held der Aufklärung, während die Traditionalisten Bossuet verehren. Bossuet hat aber die Tradition, die er verteidigen will, weniger verstanden als Fénelon. Sein Eudämonismus fügt sich in das »selfish system« der Moderne besser als Fénelons Position.
War Fénelon also im Vergleich zu Bossuet der bessere Christ?
Sagen wir so: Der zuverlässigere Interpret der christlichen Überlieferung, wozu auch seine Kritik am Absolutismus gehörte, die in der Gestalt seines Romans »Telemach« in ganz Europa gelesen
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