Ueber Gott und die Welt
schreibt, man müsse die Leiter wegwerfen, wenn man hinaufgestiegen ist.
Dieser Satz verkennt, dass dort, wo es um nicht-räumliches Oben und Unten geht, die Differenz zwischen Oben und Unten verschwindet, wenn die Leiter verschwindet – die Erinnerung. Philosophiegeschichte hat für mich die Bedeutung dieser Erinnerung. Sie ist nicht Historismus, sondern das Erfassen des Gewordenseins von philosophischen Gedanken. Wer sich davon freimacht, kann die Sache selbst nicht mehr verstehen, um die es ihm geht. Er ist dazu verurteilt, immer wieder von vorn beginnen zu müssen.
Ihre Habilitationsschrift beeindruckt durch ihren Materialreichtum, die philosophiehistorischen Kenntnisse und die gedankliche Durchdringung einer komplizierten geistigen Situation um 1700. Gab es in der philosophischen Fakultät der Universität Münster denn auch Einwände gegen Ihre Arbeit?
Nein, Widerstand gab es eigentlich nicht. Höchstens Detailkritik.
KAPITEL 5
PROFESSUREN IN STUTTGART UND HEIDELBERG
Selbstbehauptung in den unruhigen sechziger Jahren
Wir verlassen jetzt die Zeit, in der Sie sich habilitiert und Ihren wissenschaftlichen Weg zur Professur zurückgelegt haben. Im Herbstsemester 1962, wenige Monate nach Ihrer Habilitation, beginnen Sie Ihren Lehrunterricht als Ordinarius für Philosophie und Pädagogik an der Technischen Hochschule Stuttgart. Ihre Antrittsvorlesung trägt den Titel »Die zwei Grundbegriffe der Moral«. Wie kam es, dass Sie sich der praktischen Philosophie zuwandten?
Da sind verschiedenen Motive zusammengekommen. Joachim Ritter hatte den aristotelischen Begriff der praktischen Philosophie erneuert, den Begriff einer Ethik, die die kantische Engführung auf Gesinnungsmoral überwindet. Er sah den Zusammenhang der ethischen und politischen Schriften des Aristoteles, dessen
philosophia peri ta anthropina
, was später praktische Philosophie genannt wurde, und führte sie wieder in den philosophischen Diskurs ein. Sitte, Sittlichkeit wurde wieder ein zentraler Begriff, und Hegels Rechtsphilosophie kam gleich nach der Ethik des Aristoteles.
Meine eigenen Überlegungen zur Ethik stehen in diesem Kontext. Aber auch die Beschäftigung mit de Bonald und Fénelon brachte mich auf die Spur der praktischen Vernunft. Beide waren philosophierende Praktiker. Der eine entwickelte eine politische Theorie, der andere eine Theorie der geistigenLebensführung. Sie ist vor allem in Fénelons Briefen greifbar.
Mir stellte sich je länger, desto mehr eine andere Frage. Die Ethik des Aristoteles ist ja nicht nur Hermeneutik des griechischen way of life. Sie verfügt darüber hinaus über einen Maßstab, an dem verschiedene Kulturen und Sitten noch einmal gemessen werden, den Maßstab des »Natürlichen«, der
physis
. Das stärkste Argument zugunsten der athenischen Lebensform ist, dass in diesem Staat die menschliche Natur am vollständigsten zur Entfaltung kommt. Dies wiederum setzt einen teleologischen Begriff von
physis
voraus.
Physis
ist nicht einfach alles, was irgendwo vorkommt und was »von selbst« geschieht.
Physis
im klassischen Sinne des Wortes ist auf
etwas
aus, und zwar nicht auf Beliebiges. Wenn ein Hase mit drei Beinen geboren wird, dann ist das für Aristoteles eine
hamartia tes physeos
, eine Sünde der Natur, denn eigentlich ist es die Natur des Hasen, vier Beine zu haben, weil er mit drei Beinen nicht überleben kann.
Der moderne Begriff der Natur hat keine solchen normativen Implikationen, sondern nimmt einfach alles Gegebene für Natur. Was bedeutet das? Die Natur besteht nur aus »matters of fact«. Sie hat keine normativen Implikationen. Für die Ethik ist sie ohne Bedeutung. – Man kann übrigens in diesem Zusammenhang das kleine Buch »Natural Goodness« von Philippa Foot gar nicht hoch genug schätzen.
Sie machten sich also auf den Weg, diesen Versuchen eine teleologische Ethik entgegenzusetzen?
Das ist zwar richtig, aber missverständlich, weil man heute unter »teleologischer Ethik« nicht eine in der Natur verankerte Ethik versteht, sondern eine funktionalistische oder utilitaristische Moral: Für sie besteht die Sittlichkeit einer Handlung darin, dass die Gesamtheit der mutmaßlichen Folgendieser Handlung besser ist als die Gesamtheit der Folgen jeder alternativen Handlung. Und die Bewertung dieser Folgengesamtheit kann auf verschiedene Weise geschehen.
Der klassische Utilitarismus setzt als höchstes Ziel den größtmöglichen Lustgewinn für die größtmögliche Zahl. Der sogenannte »ideal
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