Ueber Gott und die Welt
Umfunktionieren von Lehrveranstaltungen, das Erzwingen von Diskussionen in den Zeiten, die ihnen gerade passten, immer war es die unterstellte »gerechte Sache«, die eine Privilegierung der Guten gegenüber den Schlechten rechtfertigen sollte. Justitia sollte die Binde von den Augen genommen werden. Ich habe mich auf dieses Spiel nie eingelassen. Wenn ich mich auf kontroverse Dispute einließ, dann immer zu einer zwischen den Studenten und mir ausgehandelten Zeit – so vor allem später mit der Marxistischen Gruppe in München.
Einmal nur drang ein Störtrupp von Nichtphilosophen in meine ziemlich besuchte Vorlesung ein, um eine Diskussion über einen Ministerialerlass zu führen, von dem sie behaupteten, dass es dringlich sei. Ich machte daraus einen kleinen Anschauungsunterricht über demokratische Spielregeln.
Mein Vorschlag war, eine zweistufige Abstimmung zu machen. Zunächst müssten wir darüber entscheiden, ob wir, das heißt in diesem Falle die Hörer der Vorlesung, bereit seien, die Frage einer Umfunktionierung einem Mehrheitsbeschluss zu unterwerfen.
Diese Abstimmung müsse einstimmig ausgehen. Denn jeder Student, der zu dieser Vorlesung gekommen ist, hat ein Recht darauf, die Vorlesung zu hören, auch mit einer 90-prozentigen Mehrheit könne die Hörerschaft nicht einen Besuch im Schwimmbad statt der Vorlesung beschließen und von der Minderheit verlangen mitzugehen. Der Contrat social muss einstimmig sein.
Wenn alle Studenten zustimmen, dass in dieser Frage eine Mehrheit entscheiden soll, dann machen wir eine zweite Abstimmung, in der mit Mehrheit darüber beschlossen wird, ob die Umfunktionierung stattfindet oder nicht. Die Hörer schienen mit diesem Verfahren einverstanden zu sein, aber die Störer nicht. Sie sagten, ihre Kommilitonen wüssten ja noch gar nicht, worum es sich handelt und wie dringlich die Sache sei, und deshalb könnten sie erst abstimmen, wenn sie darüber aufgeklärt seien. Ich erwiderte, dass mit dieser Aufklärung dann diese Vorlesungsstunde ausgefüllt werden könnte. Es sei aber möglich, dass viele Studenten in diesem Augenblick eine solche Aufklärung gar nicht wünschten.
Dieses Argument traf natürlich einen Nerv der damaligen Diskurskultur. Der unaufgeklärte Bürger wurde für unmündig erklärt, und seine Aufklärung durfte auch gegen seinen Willen erzwungen werden.
Ich ließ daraufhin die erste Abstimmung machen. Wenn die Störer nicht dagegen gestimmt hätten, wäre die Abstimmung wahrscheinlich einstimmig zugunsten eines anschließend folgenden Mehrheitsbeschlusses ausgegangen. Da aber vorauszusehen war, dass diese Mehrheit dann für eine Fortsetzung der Vorlesung plädieren würde, setzten die Störer ihren Krawall fort und erzwangen den Abbruch der Vorlesung, zum großen Ärger der Mehrheit der Studenten.
Ein Phänomen hat mich damals allerdings oft verwundert: Die »normalen« Studenten waren auch dann, wenn sie in der großen Mehrheit waren, nicht bereit, ihre Rechte gegen eine kleine gewalttätige Minderheit durchzusetzen. Sie fanden, das sei Sache der Polizei. Wenn aber die Polizei in Aktion trat, zum Beispiel um eine vorher gesprengte Rektoratswahl in Freiheit zu ermöglichen, dann weigerten sich nicht nur Studentenvertreter, sondern auch einige Kollegen, die dem Senat angehörten, diese Wahl durchzuführen, so als übe die Polizei Druck aus, während sie doch nur dazu erschien, gewaltsamen Druck zu verhindern.
Ich erinnere mich an manche nächtliche Gespräche im Wirtshaus auch mit Anführern der Unruhen. Ihre Argumentationsstrategien sind ja bekannt. Mir begegneten sie seltsamerweise fast immer mit einem gewissen respektvollen Wohlwollen.
Dabei ersparte ich ihnen wirklich nichts. Ich erinnere mich, wie ich ihnen eines Abends sagte: »Ich habe die begründete Hoffnung, dass die Organe des Staates vor euch nicht kapitulieren. Wenn ich das Gefühl hätte, ihr würdet ans Ziel eurer Wünsche kommen und die Staatsmacht an euch reißen, dann würde ich es vorziehen, dass ihr heute Abend sämtlich, so wie ihr hier sitzt, erschossen würdet.« Sie nahmen das für einen Scherz, aber ich sagte, es sei mir damit vollkommener Ernst, denn »wenn ihr an diesem Ziel angekommenwärt, würden Ströme von Blut fließen. Dann aber lieber eures vorher.«
Zur Begründung wies ich nur hin auf die Kulturrevolution Mao tse-Tungs, der ja tatsächlich ihr Idol war. Ihre Verachtung der rechtsstaatlichen Institutionen beruhte letzten Endes auf ihrer Emanzipationsideologie. Der
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