Ueber Gott und die Welt
schon etwas stattgefunden. Er hatte sich von der Politisierung der damaligen Zeit anstecken lassen. Meiner Ansicht nach ist er wirklich ein Philosoph, aber eigentlich ein unpolitischer Mensch. Wenn ein so abstrakter, theoretischer Geist in einem öffentlichen Institut seine Vorstellungen von Gerechtigkeit exekutieren will und zu Fragen der Hochschulpolitik Stellung nimmt, wird es immer gefährlich. Noch bevor ich berufen wurde, versuchte er mich zu überreden, meine Berufungsverhandlungen dazu zu nutzen, um das Prinzip der Egalität im Philosophischen Institut durchzusetzen gegen Privilegien eines Kollegen hinsichtlich der räumlichen und finanziellen Ausstattung, die auf Berufungszusagen beruhten.
Ich war dafür nicht zu gewinnen, weil ich in den Berufungsverhandlungen meine Wünsche alle erfüllt bekam und es mich deshalb überhaupt nicht interessierte, ob ein Kollege besser gestellt war. Wenn ich habe, was ich brauche, stört mich nicht, wenn ein anderer mehr bekommt. Für Tugendhat war das eine Enttäuschung. Es ging ihm ums Prinzip. Seine Motive waren – jedenfalls hatte ich den Eindruck –nicht egoistischer Natur oder von Neid bestimmt. Eher konnten die meinen so erscheinen, weil ich mich nur für die eigenen Arbeitsbedingungen interessierte.
Tugendhats Einsatz als Jude für die Sinti und Roma, seine Parteinahme für die Palästinenser sind Beispiele – und beispielhaft – für eine nicht von individuellen oder kollektiven Interessen bestimmten Option. (Natürlich wird die Seriosität eines solchen humanitären Engagements in Mitleidenschaft gezogen, wenn man erfährt, dass unter Tugendhats Leitung das Philosophische Institut der Berliner Freien Universität – und zwar nicht zu Fasching – zur »Atomwaffenfreien Zone« erklärt wurde.)
Dieter Henrich war damals gerade zu Gastvorlesungen in den USA. Wenig später – ich war mittlerweile berufen – wurde die Wahl des Rektors der Universität Heidelberg von Studenten gesprengt. Der nächste Wahlgang fand unter Polizeischutz statt. Darauf erklärte mir Tugendhat, er werde wie Georg Picht an der Rektorwahl nicht teilnehmen, solange die Polizei den Versammlungssaal bewacht. Ob ich mich anschließen wolle? Ich antwortete ihm: »Aber wieso? Die Polizei schützt doch die Freiheit der Wahl. Warum soll ich gegen den Polizeischutz sein?« Bei Tugendhat traf man immer auf diese abstrakten Vorstellungen, alles müsse auf freiem Diskurs gegründet sein, ohne dass dieser Diskurs eines Schutzes bedürfe.
In Ihren Erinnerungen an die Zeit in Heidelberg schildern Sie eindrucksvoll Ihre Irritationen. Was haben nach Ihrer Meinung die Revolten der Jahre 1967–1969 und danach auf Dauer bewirkt?
Sie haben eine Ideologie freigesetzt, die noch heute nachwirkt. Deren Kern ist ein bestimmter Begriff von Emanzipation. Dabei wird eine Vorstellung von Freiheit propagiert,nach der sich Menschen von Gegebenheiten emanzipieren müssen, die sie nicht selbst eingerichtet haben. Alles, was zu den Traditionsbeständen gehört, was man Sitten nennt, muss verabschiedet und alle Selbstverständlichkeiten müssen aufgelöst werden. Sie sind nur als historische zu verstehen. Auch von der Natur hat man sich zu emanzipieren.
Spätfolgen dieser Emanzipationsidee erkennt man daran, dass heute von vielen die Geschlechtszugehörigkeit als Naturgegebenheit abgelehnt wird. Die Gesellschaft habe dafür zu sorgen, dass die Frage seines Geschlechts von jedem Menschen frei entschieden werden kann. Die operative Geschlechtsumwandlung wird begrüßt, merkwürdigerweise wird dagegen das medizinische Angebot, eine homosexuelle Orientierung psychotherapeutisch in eine heterosexuelle umzuändern, wütend bekämpft. Darin sieht man ein reaktionäres Vorurteil, das die heterosexuelle Orientierung zur Norm, zum Natürlichen erklärt. Davon aber gelte es gerade, sich zu emanzipieren. Alles, was vorgegeben ist, beispielsweise auch die menschliche Fortpflanzung durch Beischlaf, muss revidiert, muss manipuliert werden. Famulus Wagner in Goethes Faust: »Behüte Gott! Wie sonst einst das Zeugen Mode war,/ Erklären wir für eitel Possen«.
Der klassische Begriff der Emanzipation konnte genau benennen, von welchem Zwang man sich befreien will und wann die Befreiung stattgefunden hat. Die Sklavenbefreiung zum Beispiel war als Emanzipation in dem Augenblick gelungen, als der Status des Sklaven aufgehoben wurde.
Der moderne Emanzipationsbegriff meint etwas, das nie sein Ende findet, weil es immer wieder gegen
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