Ueber Gott und die Welt
»Mensch, wie er geht und steht« (Karl Marx), galt ihnen als unmündig und erst zu emanzipieren. Als Unmündiger kann er noch keinen Anspruch darauf erheben, als vollgültiges Mitglied der Rechtsgemeinschaft anerkannt zu werden. Wer aber als mündig zu gelten hat, das bestimmt derjenige Teil der Gesellschaft, der sich selbst für emanzipiert hält und seine Aufgabe darin sieht, den anderen auch dazu zu verhelfen.
Darum kann auch das Argument der Präzedenzwirkung bestimmter Aktionen nicht zählen. Das schlichte Prinzip »Was du nicht willst, das man dir tu, das füg’ auch keinem andern zu« würde erst gelten, wenn dieser »andere« bereits denjenigen Kriterien genügt, die die Emanzipatoren als Kriterien für Mündigkeit definiert haben. Ja, letzten Endes ist überhaupt noch niemand mündig, sondern in diesem Prozess der Emanzipation ist jeder des anderen Therapeut.
Nun ging es natürlich den meisten Studenten nicht um Eroberung der Staatsmacht, sondern um effektive Mitbestimmung in der Leitung der Universität. Auch diesem Bemühen stand ich skeptisch gegenüber und hielt den Studenten vor, dass sie politisch naiv seien. »Glaubt ihr«, sagte ich zu ihnen, »der Staat würde euch im Ernst die Universität in die Hand geben und sich aus der Verantwortung zurückziehen? Warum lässt er euch auf diese Weise gewähren und begleitet eure Aktionen mit einem gewissen Wohlwollen? Der Grund ist leicht einzusehen: Die alte, als ›Professorenuniversität‹ geschmähte Hochschule hatte ein hohes Maß an Autonomie, das den Ministerien längst ein Dorn im Auge war. Sie sehen deshalbnicht ungern, wie ihr diese Autonomie zerschlagt. Nutznießer davon wird die Ministerialbürokratie sein. Es gibt Gründe, das gut zu finden. Wenn das euer Ziel ist, dann handelt ihr rational. Wenn nicht, dann seid ihr Kinder. Man wird euch eine Mitbestimmungsspielwiese geben, vorausgesetzt, dass alle relevanten Regelungen widerspruchslos von oben kommen.«
Persönlichkeiten wie der Münchener Universitätspräsident Nikolaus Lobkowicz gehören der Vergangenheit an: Lobkowicz erließ ein Rundschreiben an alle Kollegen, in dem er beklagte, dass die Professoren ständig überschüttet würden mit Ministerialerlassen, Verfügungen, Regelungen und Reglementierungen, die sie von der Forschung und der sorgfältigen Vorbereitung der Lehre abhalten. »Ich empfehle deshalb den Kollegen«, so schrieb Lobkowicz, »künftig alle vom Kultusministerium kommenden Papiere ungelesen in den Papierkorb zu werfen.«
Inzwischen haben die Professoren ja auch weitgehend die Rolle der Erfüllungsgehilfen der Ministerialerlasse übernommen. Alle beklagen sich heute über den Bologna-Prozess. Aber es hätte diesen Prozess nicht gegeben, wenn die Professorenschaft, die darüber jammert, sich geweigert hätte, diesen Prozess mitzumachen.
Professoren und Studenten ziehen hier an einem Strang. Aber leider werden nur die Studenten aktiv. Die Universität nicht als ein Forum des Klassenkampfes zwischen Professoren und Studenten, sondern als eine Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden könnte sich gegen unbegrenzte Zumutungen von oben behaupten.
Nein, die Studenten waren für mich in Heidelberg nicht das Problem. Als ich nach zwei Jahren meinen Lehrstuhl verließ und dies in einem offenen, auch den Zeitungen mitgeteilten Brief an den Dekan begründete, da kam eine Abordnungvon Studenten des Instituts zu mir, um mir zu sagen, sie verstünden nicht, warum ich wegginge.
»Haben Sie nicht gemerkt, dass wir gegen Sie gar nichts haben?«
Ich konnte darauf nur antworten: »Ich gehe auch nicht euretwegen. Ich gehe meiner Kollegen wegen, die euch in den Hintern kriechen.«
Ich fühlte mich – das hatte ich schon in dem offenen Brief geschrieben – zu sehr an das Verhalten deutscher Professoren 1933 erinnert. Es waren vor allem zwei konkrete Fälle, die mir nahegegangen waren.
Der eine war der Selbstmord von Professor Jan van der Meulen, Honorarprofessor für Philosophie in Heidelberg. Er hielt eine Vorlesung über Karl Marx, was für ihn als bekannten Hegel-Forscher durchaus in seine Kompetenz fiel. Natürlich lockte das Thema damals viele Studenten. Aber schon in der ersten Vorlesungsstunde verlangten die Wortführer Diskussion. Van der Meulen erwiderte: »Wir können nicht jetzt schon diskutieren, nachdem ich ja noch gar nichts vorgetragen habe, was sinnvollerweise Gegenstand einer Diskussion sein könnte.« Die Vorlesung platzte. Der damalige Institutsvorstand sah sich
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