Über jeden Verdacht erhaben
den sie aus taktischen Gründen vielleicht hätte verzichten sollen. »Für den Augenblick habe ich keine weiteren Fragen, behalte mir aber das Recht vor, noch ergänzende Fragen zu stellen, nachdem der Staatsanwalt meinen Zeugen vernommen hat.«
»Aha«, sagte der Vorsitzende zögernd. Es war ihm anzusehen, daß ihm tausend Gedanken im Kopf herumschwirrten.
»Dann macht das Gericht jetzt eine Mittagspause. Die Verhandlung geht nach dem Essen weiter, um Punkt 14.00 Uhr!« Die drei Richter erhoben sich gleichzeitig. Der Gerichtssekretär sprang wie ein Schachtelmännchen hoch und brüllte, alle sollten aufstehen, worauf die drei Richter im Gänsemarsch den Saal verließen.
Carl drehte sich um und ging mit ausgebreiteten Armen drei schnelle Schritte auf Jurij Tschiwartschew zu. Sie schafften es noch, sich zu umarmen und nach russischer Manier zu küssen, bevor die Wachen Jurij Tschiwartschew wegrissen, ohne Carl auch nur zu berühren.
»Madame?« sagte Carl mit einem Lächeln zu Larissa Nikolajewna. Er bot ihr den Arm an. Nach einigem Zögern hakte sie sich bei ihm ein, und so gingen sie vor allen anderen durch die Doppeltür hinaus. Die anderen standen fast in Habt-acht-Stellung da und warteten darauf, daß der höchste anwesende Offizier und nicht die Frau als erster den Saal verließ.
Als sie draußen im Korridor waren, holte Carl tief Luft und versuchte sich einzureden, daß er sich ebenso leicht von der Rolle befreien konnte, wie er in sie hineingeschlüpft war.
»Gar nicht übel, unsere Vorstellung«, flüsterte er Larissa Nikolajewna ins Ohr. Diese versteifte sich, blieb stehen und starrte ihn an.
»Nein«, sagte sie zögernd. »Das war sie wohl nicht. Darf ich aber sagen, daß…«
»Entschuldigen Sie!« sagte Carl und sprang sofort wieder in die Admiralsrolle hinein. Er hatte einen einsamen alten Mann in einer Art Ausgehuniform eines Obersten entdeckt, der zehn Meter weiter im Korridor saß.
»Ist dieser Mann der, den ich in ihm vermute?«
»Ja«, flüsterte sie leise und zog ihn unbewußt am Ärmel, als wollte sie sich aus dem Staub machen. »Es ist sein Vater. Ich glaube nicht, daß wir ihn in dieser schweren Stunde stören sollten…«
»Kommen Sie!« sagte Carl entschlossen und zog sie fast gewaltsam mit sich.
Der alte Oberst saß ganz still auf der steinernen Bank und sah mit leerem Blick auf den Marmorfußboden. Er schien nicht zu merken, daß er Besuch bekommen hatte.
»Mein geehrter Genosse Oberst«, sagte Carl und räusperte sich vernehmlich.
Als der alte Mann hochsah und Carls Blick begegnete, dauerte es ein paar Sekunden, bis in seinen Augen das Wiedererkennen aufblitzte; es war sicher die Uniform, die seine Reaktion verzögert hatte. Bei ihrer einzigen Begegnung hatte Carl Zivilkleidung getragen.
»Mein junger Admiral!« sagte der Oberst und stand zu schnell auf, so daß es ihm irgendwo weh tat, was er zu verbergen suchte. Erst breitete er die Arme aus, als wollte er Carl umarmen, doch dann bremste er sich mit einem Blick auf die Admiralssterne.
»Mein lieber Oberst, mein lieber Held der Sowjetunion!« sagte Carl. Er breitete die Arme aus, zog den vogelähnlich dünnen Mann zu sich heran und hielt ihn behutsam wie ein Kind. Dann schob er ihn vorsichtig von sich weg und zeigte auf Larissa Nikolajewna. »Darf ich bekannt machen, mein lieber Oberst: die glänzende Anwältin Ihres Sohnes, Madame Larissa Nikolajewna Astachowa. Larissa Nikolajewna, dies ist…«
»Danke, mein junger Admiral! Wir sind uns schon begegnet«, unterbrach ihn der Oberst abrupt. »Sagen Sie mir jetzt eins aufrichtig. Worum zum Teufel geht es, und was haben Sie hier übrigens zu tun?«
»Ich bin als Zeuge zugunsten Ihres Sohnes geladen«, erwiderte Carl vorsichtig mit einem Seitenblick zu Larissa Nikolajewna. Diese nickte stumm. »Und worum es geht, ist natürlich geheim.«
»Geheim!« schnauzte der alte Mann. »Was sind das für Dummheiten? Ich bin Oberst der Sowjetarmee, und Sie sind Admiral einer fremden Macht. Wie kann zwischen uns beiden dann etwas geheim sein, was außerdem meinen Sohn betrifft, der ebenfalls Offizier der Sowjetarmee ist?«
»Der russischen Armee«, korrigierte ihn Larissa Nikolajewna diskret.
»Jajaja! Natürlich sind wir Russen. Aber sagen Sie mir jetzt eins, mein geschätzter junger Freund. Was zum Teufel wird hier eigentlich gespielt?«
»Das ist für mich nicht leicht zu sagen, ich stehe unter Eid«, erwiderte Carl vorsichtig und suchte Larissa Nikolajewnas Blick. Sie wandte sich
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