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Über jeden Verdacht erhaben

Über jeden Verdacht erhaben

Titel: Über jeden Verdacht erhaben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Guillou
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es eine Bedeutung, daß ich es schon jetzt erfahre?« fragte Carl, der sich Mühe geben mußte, nicht die Selbstbeherrschung zu verlieren.
    »Ja, mein Kollege, das glaube ich«, sagte der Vizeadmiral und senkte unbewußt die Stimme. »Sie kennen Boris Nikolajewitsch offenbar persönlich? Er war es doch, der Ihnen diesen Orden da verliehen hat?«
    Der Vizeadmiral zeigte auf das Sankt-Georgs-Kreuz. Carl nickte matt.
    »Der Verfassung nach ist er der einzige, der Tschiwartschew begnadigen kann, aber das erfordert natürlich, daß ihm jemand berichtet… Ja, Sie verstehen? Sie haben vierundzwanzig Stunden Zeit. Ich bedaure, ich muß jetzt gehen!«
    Der Vizeadmiral streckte eine verschwitzte Hand aus, und ein paar Sekunden später war er verschwunden.
    Carl stand in seiner Niederlage wie versteinert da. Er empfand es als seine persönliche Niederlage, als wäre er für den Freund Jurij verantwortlich gewesen, als hätte er dessen Vertrauen mißbraucht. Er trat an eins der Waschbecken und wusch sich mit kaltem Wasser das Gesicht, während er seine Gedanken zu ordnen versuchte.
    Noch war nichts verloren. Noch haben die nicht gewonnen, redete er sich ein. Es mußte noch etwas geben, was man tun konnte, und wahrscheinlich war es genau das, was der Richter ihm soeben gesagt hatte, nämlich, daß man sich an Boris Jelzin persönlich wandte. Es blieb ohnehin kaum eine Wahl. Entweder resignieren oder etwas mit Jelzin versuchen.
    Als Carl sich das Gesicht abtrocknete, hatte er erneut Adrenalin mobilisiert. Er ging hinaus, um sich zu verabschieden und Larissa für ihr Plädoyer Glück zu wünschen, das offenbar völlig bedeutungslos sein würde.
    »Was hat er gesagt?« flüsterte sie neugierig, da sie die unerwartete außergerichtliche Begegnung natürlich gesehen hatte.
    »Er sagte, wir würden gewinnen, aber er erhoffe von dir trotzdem ein gutes Plädoyer«, sagte Carl. Er lächelte sie breit an, beugte sich vor und gab ihr einen Kuß auf die Wange. Dann flüsterte er ihr ins Ohr, sie solle jetzt reingehen und den Burschen die Hölle heiß machen. Dann tätschelte er ihr die Wange und ging schnell weg.
    »Fahren Sie mich zu Präsident Jelzin!« befahl Carl kurz, als er sich auf den geräumigen Rücksitz der Sil-Limousine fallen ließ. Der V-8-Motor schnurrte leise los.
    Der Fahrer warf ihm im Rückspiegel einen forschenden Blick zu, legte zögernd den Gang ein und ließ den Wagen sanft anfahren.
    »Verzeihung, aber haben Sie das ernst gemeint, Herr Admiral?« fragte der Fahrer nach einem halben Straßenblock.
    »Und ob«, bestätigte Carl.
    »Haben Sie die Adresse?« versuchte der Fahrer zu scherzen, während er Blickkontakt zu Carl suchte, den er nicht erhielt.
    »Nein«, sagte Carl. »Aber wenn ich Sie wäre, würde ich es mal im Kreml versuchen. Er ist auf jeden Fall in Moskau, da er den Polizeichef der Stadt heute morgen entlassen hat.«
    »Kreml? Das große Tor am Roten Platz?« fragte der Fahrer und verdrehte die Augen.
    »Genau«, bestätigte Carl. »Direkt zu dem Wachtposten an der Ampel vor dem großen Portal. Das Reden überlassen Sie mir, verstanden?«
    »Ja, das dürfte am besten sein«, brummte der Fahrer und schüttelte den Kopf.
    Carl ging schnell seinen einfachen Plan durch. Erstens hatte er keine Zeit zu verlieren, zweitens mußte er den Versuch wagen, solange er die ganze Theaterrequisite, einschließlich des großen schwarzen Wagens des Hotels Metropol, zur Verfügung hatte.
    Eins stand fest. Wenn er den Versuch gemacht hätte, auf entsprechende Weise in das Weiße Haus in Washington zu gelangen, wäre er nicht sehr weit gekommen, egal, für welche Maskerade er sich entschieden hätte; die Wahrscheinlichkeit, erschossen zu werden, dürfte weit größer gewesen sein als die Aussicht, sich nur mit Hilfe des Mundwerks bis zum Präsidenten vorzuquatschen.
    Doch jetzt gab es in Moskau einen Zustand chaotischer Unsicherheit. Überdies sprach er russisch. Er konnte, ohne falschzuspielen, den Präsidenten als »Boris Nikolajewitsch« bezeichnen, da der Präsident ihm tatsächlich das Du angeboten hatte. Außerdem konnte er sich wahrheitsgemäß darauf berufen, er dürfe »jederzeit« zu Besuch kommen. Auch wenn Jelzin kaum nüchtern gewesen war, als er diese Zusage gab. Außerdem war Carl schon mal im Kreml gewesen, nämlich in einem Empfangszimmer, das vermutlich in nächster Nähe von Jelzins Arbeitszimmer lag. Es war zu schaffen. Jedenfalls mußte er es versuchen. Das Schlimmste, was ihm passieren konnte, war, daß

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