Über jeden Verdacht erhaben
würde er nie zurückerhalten, denn so weit reichte nicht einmal Boris Nikolajewitschs Macht. Doch er lebte.
Carl versuchte, sich hinter geschlossenen Augenlidern an das Letzte zu erinnern, was er an jenem Morgen draußen auf dem Domodedewo-Flughafen von Jurij gesehen hatte. Beide hatten blutunterlaufene Augen und Bartstoppeln. Sie mußten entsetzlich ausgesehen haben, womit sie an und für sich in diesem Land, auf diesem Flughafen, in dieser Stadt und zu diesem Zeitpunkt nicht allein gestanden haben konnten.
Doch es war vorbei.
Es war also richtig gewesen, nicht Selbstmord zu begehen. Er hatte wenigstens etwas getan, was wichtig war, etwas Gutes, nachdem Tessie und Ian Carlos ihn verlassen hatten.
Plötzlich befielen ihn halluzinatorische Bilder von ihrem Tod. Es mußte so gewesen sein wie bei einem Angriff mit Napalm. Da schlug er voller Panik die Augen auf. Er versuchte verzweifelt, sich an etwas anderes zu erinnern, am liebsten etwas Komisches, etwa weshalb Jurij Tschiwartschew nicht hatte verstehen können, weshalb ein schwedischer Vizeadmiral drei Admiralssterne hatte. Das war ein Ausdruck der allgemeinen schwedischen Inflation an Rangbezeichnungen, eine Art Ausgleich oder Demokratisierung, eine besondere Form von Sozialismus, die es mit sich brachte, daß Schweden größere und mehr Sterne hatte als andere; bei Flottenbesuchen machten schwedische U-Boote immer einen albernen Eindruck, da bis auf fünf oder sechs Mann, die aus dem Turmluk kletterten, alle Offiziere waren.
Carl trank konzentriert und langsam von seinem Kaffee und biß ein großes Stück des frischgebackenen Hörnchens ab. Dann schloß er erneut die Augen und ließ die Gesichter vor seinem inneren Auge vorübergleiten, als betrachtete er einen Videoclip.
Er hatte nicht vergeblich weitergelebt. Außerdem hatte er noch ein wichtiges Projekt vor sich, etwas, was ohne jedes Selbstmitleid getan werden mußte.
In wenigen Minuten stand eine Besprechung der Führungsgruppe bevor, bei der es hart zur Sache gehen würde. Doch dafür stand die Konferenz in einem sehr klaren Zusammenhang mit dem letzten wichtigen Vorhaben, das ihm noch blieb. Dann, irgendwann danach, blieb ihm nur noch die Phantasie, Gesichter und Erinnerungen.
Doch jetzt mußte er sich erneut zusammennehmen und eine neue Rolle spielen. Jetzt mußte er mehrere Stunden lang der Schwarze Admiral sein.
Die Stockholmer Polizei hatte achtundvierzig Stunden unter tumultuarischen Formen eine ganze Reihe von Kurden-Razzien durchgeführt; das war der Begriff, für den sich die Medien entschieden hatten, sogar das Echo des Tages . Rund dreißig Personen, darunter mindestens ein Drittel Frauen und Kinder, waren unter den grellen Spotlights von Fernsehteams aus ihren Wohnungen geschleift und in Handschellen abgeführt worden, während man bei der vermeintlichen Suche nach Mordwaffen und Beweisen für kurdische Verschwörungen ihre vier Wände auf den Kopf stellte. Wie gewöhnlich hatten umfassende Beschlagnahmen stattgefunden, obwohl nicht genau feststand, was in unzähligen schwarzen Plastiksäcken fortgeschafft worden war.
Erik Ponti empfand es als traumhafte Wiederholung von Ereignissen, die er aus früheren Jahren kannte. Auch damals »wußten« plötzlich alle Medienkonkurrenten, was vor sich ging, und berichteten fröhlich über Dinge, die sich schon bald als vollkommen unbegründet herausstellten. Wenn man den »Leichtnachrichten« von TV 4 und Expressen glauben konnte, den Nachrichtenkanälen, die über die besten Verbindungen zur Polizei zu verfügen schienen, war eine kurdische Terroristenorganisation von den entschlossenen und wohlüberlegten Aktionen der Stockholmer Polizei geradezu zerschmettert worden. Die Mordwaffe, die vor dem kurdischen Buchcafé verwendet worden war, befinde sich unter dem beschlagnahmten Material, ebenso die verwendete Munition.
Von der Arbeit der Polizei blieben angeblich nur noch »kleinere Aufräumaktionen« übrig. In technischer Hinsicht war der kurdische Doppelmord schon aufgeklärt, ebenso vermutlich der Doppelmord in Umeå vor einiger Zeit.
Der Chef des Gewaltdezernats in Stockholm, Jan Köge, hatte im Fernsehen schon einige triumphale Auftritte hinter sich. Die Zeitungen schrieben jetzt fast ohne Ausnahme aus dem gleichen Blickwinkel über seine »Revanche« an den Kurden, die früher ja an seinem Sturz und seiner Entlassung bei der Säpo im Zusammenhang mit dem Ebbe-Carlsson-Skandal mitgewirkt hätten.
So war die Lage vor der Morgenkonferenz,
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