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Über jeden Verdacht erhaben

Über jeden Verdacht erhaben

Titel: Über jeden Verdacht erhaben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Guillou
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aufflammte. Er nahm einen Blasebalg und begann, mit langsamen, gleichmäßigen Bewegungen die Asche von Ian Carlos’ Matrosenhemd, Tessies Morgenmantel und den anderen Kleidern durch den Schornstein zu blasen.
    Er erhob sich ein wenig steifbeinig, da sich das Blut durch sein Hocken vor dem Feuer um die Knie gestaut hatte. Ihm ging jetzt auf, daß er alle ihre Kleider verbrennen mußte.
    Doch nicht gerade jetzt, das würde zuviel Zeit erfordern. Er hatte am nächsten Morgen eine wichtige Konferenz mit der Führung und wollte ausgeruht und gut vorbereitet erscheinen.
    Er legte einige neue Birkenscheite auf das Feuer, um diesem mehr Glanz zu geben, etwas Helles, was seine Gedanken von dem ablenkte, was er gerade getan hatte.
    Widerwillig drehte er eine langsame Runde durchs Zimmer. Fast glaubte er, die Stimmen der beiden zu hören. Als er vor dem sehr amerikanischen Barwagen stehenblieb, den er gekauft hatte, zögerte er. Alkohol hatte er nie als Trost aufgefaßt. Wahrscheinlich hatte er in dem vergangenen Monat keinen Tropfen Alkohol getrunken. Wein konnte er sich nämlich ohne Gesellschaft und ein Essen kaum vorstellen, und Hochprozentiges trank er nur, wenn er satt war, nach dem Wein.
    Sie waren ja in Schottland gewesen und hatten einiges darüber gelernt, was richtig und falsch war. Ein Whisky durfte kein gemischter sein und absolut nicht amerikanisch. Plötzlich flatterte ein kurzer Erinnerungsfetzen an ihm vorbei: Er dachte daran, als er drauf und dran gewesen war, »seinen Clanchef«, den Herzog von Hamilton, um einen Jack Daniels on the rocks zu bitten, was lästerlich gewesen wäre. Jetzt standen hier Whiskysorten, die als anständig galten. Tessie hatte große Mühe darauf verwandt, alles darüber zu lernen. Macallan war am besten; Highland Park war am besten, wenn man allein war, da dieser Whisky Konversation machen konnte. Etwas in der Richtung.
    Carl goß vorsichtig ein paar Zentiliter in ein Glas ein. Er stellte fest, daß der Eiskühler leer war. Dabei fielen ihm ihre Ermahnungen ein, daß echte Schotten kein Eis nehmen. Er setzte sich fast demonstrativ auf ihren Platz und streckte die Hand nach der Fernbedienung der Stereoanlage aus.
    Bei den ersten Tönen von Mozarts Requiem, der Totenmesse, zuckte er zusammen. Es war tatsächlich so: Die einzige Musik, die er sich in den letzten Monaten angehört hatte, war das wenige, was es von Mozarts dunkler Musik gab. Er schaltete rasch zum zweiten Programm um und hörte etwas, was er für eine Partie aus Rimskij-Korsakows »Scheherazade« hielt.
    Das war für ihn in diesem Augenblick besser.
    Er war vierzig Jahre alt. Vor ein paar tausend Jahren wäre er ein alter Mann gewesen, der seine Lebensleistung schon hinter sich hatte. Der Whisky schmeckte schockierend stark, eher stark als gut. Er hatte einen zu großen Schluck genommen, war dafür aber auch kein richtiger Schotte. Beide Erklärungen konnten genauso wahr sein. Vor einigen tausend Jahren wäre er das gleiche biologische Wesen gewesen wie in diesem Augenblick, derselbe Mensch. Aber schon verbraucht, nicht mehr stark genug, um überlegen zu können. Reichlich Stoff zum Nachdenken. Eine Erklärung konnte sein, daß die Lebensbedingungen damals so hart waren, daß weniger als ein Prozent der Männer sich nach der Vollendung des vierzigsten Lebensjahrs noch behaupten konnten. Es war überdies eine Zeit, in der die Menschen an einer Blinddarmentzündung starben. Damals gab es noch ein göttliches Moment, das im Leben aller eine Rolle spielte. Eine andere Erklärung war, daß die Versorgung inzwischen so effektiv geworden war, daß selbst schwache Individuen überleben konnten, ohne unbedingt ständig andere Männer totschlagen zu müssen. Für diese Erklärung entschied Carl sich jetzt spontan. Es war folglich normal, daß er noch ein Vierteljahrhundert bis zu einer Pensionierung hatte, bis er überhaupt in sozialem und politischem Sinn als alt galt.
    Ihm fiel ein schwedischer Olympiaschütze ein, der beim Fünfkampf gegen das Dopingverbot verstoßen hatte, weil er vor dem Schießen ein Bier getrunken hatte. Carl betrachtete jetzt sein leergetrunkenes Whiskyglas und beschloß impulsiv, es zu versuchen. Er ging schnell in den Keller und schaltete alle Neonröhren ein.
    Er wählte die Waffe, die er immer im Ernstfall verwendet hatte, nämlich um andere Menschen zu töten. Die Pistole hatte einen mit Perlmutt eingelegten Kolben, und dort, wo sich die Finger schlossen, war das Familienwappen eingraviert. Er würde

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