Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ueber Meereshoehe

Ueber Meereshoehe

Titel: Ueber Meereshoehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Francesca Melandri
Vom Netzwerk:
erschienen. Nach ihm rufend und pfeifend war sie den ganzen Gartenweg entlang zum Haus gelaufen, wo sie ihn schließlich sah. Er lag reglos vor der Tür, die Hinterbeine unter dem dicken Gesäß mit dem zerzausten Fell versteckt, die Schnauze mühsam ein wenig angehoben. Nur die Schwanzspitze wedelte schwach über den Boden – ein trauriges Lächeln auf Hundeart. So sah er sie an, mit einem Blick, der nicht um Hilfe bat, was vielleicht noch erträglicher gewesen wäre, sondern um Verzeihung.
    Auf eben diese Weise hatte auch, anstatt ihr zu antworten, Pierfrancesco sie angesehen.
    Und am liebsten hätte sie, so wie damals bei Rocco, seinen Kopf zwischen die Hände genommen und an ihre Brust gelegt und zu ihm gesagt: ›Sei unbesorgt, es wird alles gut.‹ Doch das konnte sie jetzt nicht mehr, weil sie mittlerweile wusste, dass es nicht stimmte, dass nicht immer alles gut wurde. Auch Rocco war am Tag darauf von ihrem Großvater in den Lieferwagen geladen worden, und sie hatte ihren Hund nie wieder gesehen.
    Anfangs, als sie auf die Insel gekommen waren, war Maria Caterina noch voller Vorfreude gewesen. Man hatte ihr die kleine Grundschule für den Nachwuchs des Gefängnispersonals anvertraut, ein Dutzend Kinder zwischen sechs und zwölf Jahren. Ihre Vorgängerin war zu alt gewesen und zu erschöpft, um noch für Disziplin in der Klasse zu sorgen, und als Maria Caterina bei dem niedrigen weißen Gebäude eintraf, saßen die Schüler auf dem jahrhundertealten Feigenbaum, der vor der Schule wuchs. Alle hockten sie dort, klammerten sich an den Ästen fest, die Jüngeren weiter unten, die Ältesten ganz oben in der Krone. Ihre Botschaft war klar: Sie hatten keine Angst, weder vor ihr noch vor sonst irgendjemandem.
    Doch von diesem Empfang ließ sich Maria Caterina nicht beeindrucken. Sie, die Tochter einer Bauernfamilie, hatte sich die ganze Kindheit über die Beine beim Klettern und Schleichen auf Bäumen und durch Gräben aufgescheuert, und zwischen ihr und dem ältesten ihrer neuen Schüler lagen nicht einmal sieben Jahre Altersunterschied. Mit der linken Hand hielt sie sich am Stamm fest und schwang das rechte Bein in die Höhe, stemmte sich hinauf und hockte sich rittlings auf einen der unteren Äste. Sie war schlank und gut gebaut, aber nicht groß: Ihre Füße reichten nicht bis zum Erdboden.
    Gut, dass ich heute eine Hose angezogen habe , kam es ihr in den Sinn.
    Â»Guten Morgen, Kinder«, sagte sie. »Ich heiße Maria Caterina und bin eure neue Lehrerin.«
    Ein Schüler neben ihr, der sehr klein war und sich alle Haare abrasiert hatte, nachdem er von Läusen befallen worden war, starrte sie mit aufgerissenem Mund an. Einmal mit der Lehrerin auf einem Baum zu sitzen, das hätte er sich auch nicht vorstellen können. Doch damit nicht genug. Die Lehrerin reckte jetzt einen Arm, griff mit ernster Miene nach einem Ast über ihrem Kopf und brachte ihn in Schwingung, als gelte es zu prüfen, wie haltbar er sei. Der kleine Junge, der darauf saß, begann zu schaukeln wie auf einer Wippe. Erschrocken schrie er auf und klammerte sich ängstlich am Stamm fest, um nicht hinunterzufallen.
    Maria Caterina beobachtete es mit gleichgültiger, distanzierter Miene. Erst nach einer Weile nahm sie den Arm herunter und ließ den Ast ausschwingen.
    Â»Ihr seid es wohl gewohnt, hier oben Unterricht zu haben. Gut, mir soll es recht sein. Also holt jetzt alle eure Hefte, dann richten wir uns auf diesem schönen Feigenbaum ein.«
    Sie zeigte auf die kleinen Kugeln der Früchte, die sich schon entwickelt hatten. »Wir müssen bloß aufpassen, dass wir die nicht abbrechen, solange sie noch grün sind. Dann können wir im Sommer hier oben Feigen essen.«
    Sie hob den Blick und schaute die Kinder an, eines nach dem anderen, aufmerksam und doch neutral.
    Â»Aber erzählt mir später nicht, ihr hättet zu unbequem gesessen, um ordentlich zu schreiben. Von jedem von euch verlange ich stets eine schöne, ordent liche Handschrift.«
    Da kletterten die Kinder vom Baum und kehrten in die Klasse zurück.
    Maria Caterina wurde die angesehenste Lehrerin, die es je auf der Insel gegeben hatte. Sogar die Minister, die das Gefängnis und die Krankenstation besuchten, schauten bei ihr in der kleinen Schule vorbei. Und kein Kind versuchte je, ohne ihre Erlaubnis das Klassenzimmer zu verlassen.
    Ja, sie war

Weitere Kostenlose Bücher