Ueber Meereshoehe
von den Häftlingen, die »ich bin unschuldig« sagten.
Also von allen.
Während ihr Mann erzählte, lag Maria Caterina mit einer Wange auf seiner Brust. Die schwarze Behaarung kitzelte ihr in der Nase, und die tiefe Stimme, die ihr aus seinem Brustkorb direkt ins Ohr drang, erfüllte sie mit einem groÃen Frieden. Er hatte den Arm um ihre nackten Schultern gelegt und barg eine ihrer Brüste in einer Hand wie einen Schatz.
Doch das war früher. Vor langer Zeit.
Seit Jahren schon erzählte ihr Pierfrancesco nichts mehr. Und wenn er mit diesen Spuren (aber wovon blo�) an der Uniform nach Hause kam, war seine Stimmung so in Schieflage wie ein Schiff kurz vor dem Untergang; an diesen Tagen war es schon viel, wenn er überhaupt ein Wort mit ihr oder den Kindern sprach.
Einige Winter zuvor hatten drei Häftlinge, die einen Lattenzaun reparieren sollten, den Aufseher, der sie bewachte, mit einem Brett niedergeschlagen. Bevor sie flüchteten, fesselten sie ihn mit einem Draht an Händen und FüÃen und lieÃen ihn in einem der flachen Strandseen hinter der Küstenlinie, den Kopf knapp über der Wasseroberfläche, zurück. Als ihn die Kollegen einige Stunden später fanden, schaffte er es kaum noch, die Nase aus dem Wasser zu stecken, und sein Körper war gefährlich unterkühlt. Lange Zeit war der Vollzugsbeamte krank geschrieben. Als er endlich wieder zur Arbeit kam, blieb er nur noch kurze Zeit im Zellentrakt: Nach ein paar Tagen versetzte ihn die Ge fängnisleitung ins Materiallager. Dort arbeitete er, völlig ohne Kontakt zu den Häftlingen, bis er ir gendwann vorzeitig pensioniert wurde.
Was an den wenigen Tagen, die jener Aufseher noch einmal im Gefängnis Dienst getan hatte, vorgefallen war, wusste Maria Caterina nicht. Niemand erklärte es ihr. Weder Pierfrancesco noch seine Kollegen. Die anderen Vollzugsbeamten waren freundlich zu ihr, erkundigten sich, ob ihre Kinder brav Hausaufgaben machten, brachten ihr, wenn sie aufs Festland fuhren, Würste und eingelegtes Gemüse mit, doch aus den Gesprächen, die in ihrer Anwesenheit geführt wurden, blieb ihre Arbeit verbannt. Der Alltag im Gefängnis, die Stunden zwischen Mauern, Gittern und Schlössern, nichts davon existierte, wenn sie mit Maria Caterina sprachen. Was den Kontakt zu ihr betraf, hätten sie auch Astronauten, Perlenfischer oder Offiziere der Fremdenlegion sein können. Diese Kollegen konnte sie also nicht fragen, warum ihr Mann so verändert war, was man ihm angetan oder â bei dem Gedanken verspürte sie einen Stich in der Lunge â was er selbst getan hatte.
In Maria Caterinas Heimatdorf stand auf dem Platz vor der Kirche ein Brunnen. Wenn sie sich, das väter liche Verbot missachtend, als kleines Mädchen weit in diese Finsternis vorlehnte, hatte ein Schwindel aus Schrecken und Verlockung sie erfasst. Schon damals diente der Brunnen nur noch dazu, den Gemüsegarten hinter der Sakristei zu bewässern. Mit schweiÃnas sen Achselhöhlen lieà die alte Haushälterin den Eimer hinunter und grummelte dabei, dass es immer weniger Wasser gebe, nur noch unten am Grund, und dass es immer schwieriger werde, den Eimer hinaufzuziehen. Und jedes Mal vernahm Maria Caterina fast enttäuscht den Schlag, dumpf und entfernt, wenn das Zink auf der schwarzen Wasseroberfläche aufschlug: Die Vorstellung eines bodenlosen Abgrunds gleich dort, nur wenige Schritte von ihrem Haus entfernt, missfiel ihr nicht.
Und nun kam es ihr seit Jahren so vor, als habe ihr Pierfrancesco sich in solch einen Brunnen hinabge lassen. Um ihn zu erreichen, musste sie mit dem Eimer immer tiefer hinunter, musste immer mehr Seil abwickeln, und sie fürchtete den Tag, da es sich als zu kurz erweisen und der Eimer nutzlos in der finsteren Leere baumeln würde. Sie fürchtete den Moment, in dem es ihr nicht mehr gelang, zu ihrem Mann vorzudringen.
Jetzt stand er nur wenige Meter von ihr entfernt im Rahmen der Tür, die er hinter sich geschlossen hatte. Wie gut er immer noch aussah. Maria Caterina kannte sein Gesicht besser als ihr eigenes, hatte es mit Sicherheit sehr viel länger angesehen: die gerade Nase, die langen Wimpern, die bogenförmigen Falten seitlich des fast weiblich wirkenden Mundes, die von den Windpocken zurückgebliebene Narbe, die eine Augenbraue durchzog. Als er eingetreten war, musste sie mit einer Hand ein auf dem Bügelbrett ausgebreitetes Hemd
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