Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ueber Meereshoehe

Ueber Meereshoehe

Titel: Ueber Meereshoehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Francesca Melandri
Vom Netzwerk:
uns.«
    Nun watete er mit einer Harpune in der Hand im niedrigen Wasser der Bucht umher. Die Uniformjacke hatte er abgelegt und die Hosenbeine bis über die Knie aufgekrempelt. Der Blick, mit dem er ins klare Wasser starrte, war eher der eines Goldschmieds als der eines Fischers, ein Blick, wie er für Filigranarbeit verlangt wird. Tatsächlich wuselten ganze Schwärme kleiner silberner Fische um seine Knöchel herum, wie Bienen, die von einer besonderen Blüte angelockt werden.
    Nicht nur Nitti wusste, dass der Maestrale für Überfluss sorgte. Auf einem der Felsen, die die Brandung aus der Bucht fernhielten, hockte eine Kolonie Kormorane und schaute aufmerksam in die Fluten, die Flügel eng an die kartoffelförmigen Körper gelegt, die Hälse gereckt wie Schüler, die kein Wort einer Unterrichtsstunde verpassen wollen.
    Einige Seemöwen ließen sich vom Wind treiben, tauchten ins Wasser ein und stiegen kurz darauf, wie Halbstarke schreiend, wieder zum Himmel auf. Ohne auch nur einmal mit den Flügeln zu schlagen, schwebte ein Sturmtaucher tief über dem Wasser, als hinge er an einem unsichtbaren Faden.
    Paolo war auf einen Felsen geklettert und sammelte Seeigel. Als er all diese vereinzelten schwarzen Punkte auf dem zerklüfteten Stein entdeckt hatte, bat er Nitti um ein Messer. Der Vollzugsbeamte zog die von der Narbe geteilte Augenbraue hoch, griff dann in die Harpunentasche, die er noch von zu Hause geholt hatte, und brachte ein Messer mit rechteckiger Spitze und einer gezackten Klinge zum Vorschein.
    Â»Auch davon kein Wort zum Direktor.«
    Â»Nein, nein«, antwortete Paolo ein wenig schuldbewusst, »auch davon erfährt er nichts.«
    Beim ersten Igel blieb in der Handfläche ein Stachel von der Farbe alten Mostes zurück.
    Ich bin wohl aus der Übung.
    Wann hatte er das letzte Mal Seeigel von einem Felsen gelöst? In Framura, vor tausend Jahren.
    Bis zum Bauch im Wasser stehend, hatte er sie Emilia angeboten, die etwas erhöht, mit einer halben Zitrone in der einen und einem Löffelchen in der anderen Hand, die Fußsohlen leicht im Wasser, auf einem Felsvorsprung saß. Aufgeschnitten reichte er sie ihr, das fleischige Innere immer noch pulsierend, fast obszön im Kontrast zu den streng geraden, elegant angeordneten und jetzt sinnlos wehrhaften Sta cheln. Ohne eine Spur von Verlegenheit oder Ekel pulte Emilia mit dem Löffelchen in dieser weichen, glibberigen Masse, holte das Fleisch hervor, träufelte ein paar Tropfen Zitrone darüber und steckte es sich, mit den Lippen schnalzend, in den Mund.
    Nun war es Luisa, die die Igel mit dem Löffel auspulte. Auch ihr reichte Paolo sie wie reife Früchte geöffnet. Sie hatte es übernommen, das Fleisch in eine weiße Plastikbüchse zu geben, und sie tat dies mit sicheren, geübten Handbewegungen. Man hätte nicht geglaubt, dass sie noch nie zuvor einen Seeigel aus genommen, ja, noch nicht einmal einen gesehen hatte.
    Luisa erinnerten die Tiere an die Schnecken in einem lange zurückliegenden Sommer ihrer Kindheit.
    Es war das letzte Kriegsjahr, und sie war fünf Jahre alt. Nach einem sehr harten Winter bekamen nun auch die Bauern den Hunger zu spüren. Mit einem ihrer älteren Brüder, der aber noch jung genug war, um sich während der Razzien nicht im Keller verstecken zu müssen, ging Luisa in den Wald, der sich ans Bauern haus der Eltern anschloss. Eichhörnchen, Hasen, Wach teln, alles wäre recht gewesen. Aber überhaupt Wild aufzutreiben, war schon schwierig. Schließlich gab es genug Konkurrenz, denn in jenem Winter war ein ganzer Kontinent damit beschäftigt, irgendwie dem Hunger beizukommen. Und noch schwerer war es, diese Tiere zu er legen: Die meisten liefen oder flogen zu flink, um sie nur mit einer Schleuder zu treffen, und häufig kehrten sie mit leeren Händen von der Jagd zurück.
    Der große Regen hatte eingesetzt, tagelang ergoss sich eiskaltes Wasser übers Land, und es sah so aus, als wollte es nie mehr aufhören. Der Gemüsegarten, den bereits die Stiefel der Schwarzhemden zertrampelt hatten, war nur noch eine formlose, schlammige Fläche. Die niedrige Steinmauer aber, die ihn ein fasste, war mit Schnecken übersät. Blass, glatt und schleimig waren sie, vor allem aber fett. Und es waren viele, sehr, sehr viele. Geschöpfe des Überflusses in einer Zeit des Mangels.
    Luisa entdeckte sie von der Küche aus,

Weitere Kostenlose Bücher