Ueber Meereshoehe
rannte mit nackten FüÃen, während sich der Schlamm durch ihre Zehen presste, in den Regen hinaus zu dem Mäuerchen und begann, Schnecken vom Stein zu lösen und sie in die geraffte Schürze fallen zu lassen. Nicht lange, und auch ihr Bruder kam herbeigelaufen, hielt mit einer Hand einen Zipfel seines Hemdes auf und machte sich wortlos daran, ebenfalls Schnecken von der Mauer abzutrennen. Später, wieder in der Küche, zogen sie die glänzenden, schleimigen Tiere aus ihren spiralförmigen Häusern und legten sie alle nackt auf einen Teller.
Ihre Mutter, die ihnen verwundert, aber auch erleichtert zugesehen hatte, gab sie mit etwas Knoblauch in eine Pfanne, und Luisa beobachtete, wie sich die Schnecken einige Sekunden lang aufgeschreckt rührten, um dann in sonderbar gewundenen Formen zu erschlaffen. Sie schmeckten nach Erde, Regen und Salbei.
An diese Schnecken, die in einem so lange zurückliegenden Sommer als kleines Mädchen ihren Hunger gestillt hatten, dachte Luisa jetzt, während sie die Seeigel säuberte, die Paolo ihr reichte.
»Wie viele werden wir wohl haben?«, fragte er.
Luisa schaute in das Gefäà mit dem orangefarbenen Brei darin. Wie viele Igel mochten das sein?
Sie wusste es nicht, hatte ja auch nicht gezählt.
In diesem Moment erreichte eine besonders lange Welle Nittis Jacke, die er in den Sand aus hellem Quarz gelegt hatte. Das Meer blähte den grauen Stoff, füllte die Ãrmel aus, den zweireihigen Torso, auch den Hals. Nitti fluchte, und Paolo hob den Blick. Da sah er im Meer einen Gefängnisaufseher, der den toten Mann gab und sich von der starken Strömung treiben lieÃ. Erst nach einigen Sekunden ging ihm auf, dass es sich nur um eine Jacke und keinen Menschen handelte. Das ablaufende Wasser zog sie zum Ausgang der Bucht und ins offene Meer hinaus.
Hüpfend und spritzend setzte Nitti ihr im flachen Wasser nach. Sie begann bereits zu sinken, da gelang es ihm, einen Arm weit ausgestreckt, sie mit der Harpunenspitze aufzuspieÃen und zu sich heranzuziehen. Dann hob er die Waffe und hielt die Jacke senkrecht in die Höhe.
Eine Vogelscheuche in Wärteruniform mitten im Meer .
Wie schade, dachte Paolo, dass nicht auch sein Sohn dieses lustige und bizarre Bild sehen konnte.
SchlieÃer. Wachtel . Viele Namen hatten die Häftlinge für ihre Wärter. Der brutalste: Arbeiter im Lager für Menschenfleisch . Der abgedroschenste: Büttel des Systems .
»Diese Büttel des Systems entmenschlichen uns«, hatte Paolos Sohn während eines Besuchs einmal zu ihm gesagt.
»Wenn du sie so nennst, entmenschlichst du sie auch.«
Sein Sohn hatte darauf etwas in jenem Ton doktrinärer Gewissheit erwidert, bei dem Paolo groÃe Lust bekam, ihn einfach seinem Schicksal zu überlassen. »Nein, du kannst das nicht verstehen.«
Und Paolo war wieder jene Geste des Polizisten im Gerichtsgebäude eingefallen.
Es waren die Wochen, nachdem man die Leiche des hohen Politikers aufgefunden hatte, bei dessen Entführung Monate zuvor seine ganze Eskorte niedergemetzelt worden war. Es war Mai, aber das ganze Land schien in groÃer Kälte erstarrt. In den Gefängnissen fürchtete man Repressalien, wenn nicht sogar Lynchjustiz an den politischen Gefangenen.
In den Fluren des Gerichtsgebäudes, wo die Verhandlung stattfand, passierten die angeklagten mutmaÃlichen Terroristen eine Gasse ihnen zugewandter Rücken: Die für die Absperrung zuständigen Polizisten waren angewiesen worden, mit dem Gesicht zur Wand zu schauen â aus Vorsicht, damit kein Uniformierter auf die Idee käme, selbst für Gerechtigkeit zu sorgen. Paolo und den anderen Angehörigen der Angeklagten wurden Plätze in einem gesonderten Bereich des Gerichtssaals zugewiesen, getrennt von den Angehörigen der Opfer und den übrigen Besuchern. Zu ihrer eigenen Sicherheit, hieà es. Ein Polizist hatte sie zu den Sitzreihen geführt, und ohne sich umzuschauen, setzten Paolo und die anderen sich eilig . Nun nahm der Beamte Aufstellung, aber so, dass er dem Gericht sowie seinen Kollegen und dem GroÃteil des Publikums im Saal den Rücken zuwandte. Nur Paolo hatte er unmittelbar vor sich. Da streckte der Mann die Hand aus und hielt ihm zwei Finger an die Schläfe. Einen imaginären Abzug betätigend, zischte er mit gezügeltem Hass:
»Klick.«
Es ging blitzschnell. Sofort zog er die Hand zurück und drehte
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