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Ueber Meereshoehe

Ueber Meereshoehe

Titel: Ueber Meereshoehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Francesca Melandri
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einen Aufseher gefragt, wie es denn aussehe, das Meer bei Nacht.
    Â»Schwarz«, habe der geantwortet.
    Paolo beobachtete, wie dieses Meer von unzähligen glitzernden Sicheln brodelte, und wünschte sich aus ganzem Herzen, die passenden Worte zu finden, um es seinem Sohn zu beschreiben.
    Â»Die lassen wir aber in Ruhe«, sagte Nitti, indem er den Zündschlüssel umdrehte und den Motor wieder anließ. »Für heute haben wir genug Fisch gegessen.«
    Wie spät mochte es sein? Paolo hatte seine Armbanduhr in eine Tasche seiner Jacke gesteckt, die über der Lehne des Friseurstuhls hing, auf dem er es sich mehr schlecht als recht bequem gemacht hatte. Es war im Krankenhaus, an den Tagen vor Emilias Tod, dass er zum letzten Mal die Nacht im Sitzen zugebracht hatte.
    Luisa schlief auf der Pritsche. Sie hatte die Plastikhülle von der Matratze gezogen und darüber die Decken und Bezüge ausgebreitet, die ihr Maria Caterina ausgeliehen hatte. Nitti saß auf einem der drei Stühle, und die beiden anderen nutzte er, um darauf seine Beine auszustrecken. Er schnarchte leise.
    Wahrscheinlich ist er noch jünger, als er ohnehin schon aussieht .
    Paolo stand auf, um durch das Fenster im Flur hinauszuschauen – die einzige Glasscheibe, mit der der pompöse Name des Gebäudes zu rechtfertigen gewesen wäre. Er musste an Nittis Worte denken, als er sie zum ersten Mal hierhergebracht hatte.
    â€ºHier gibt es vieles nicht. Nur das Wort gibt es.‹
    Eine Formulierung, die Paolo auch sehr treffend für das Leben seines Sohnes und dessen Genossen schien. Ein Leben, das aus Dingen bestand, die es nicht gab. Nur das Wort gab es.
    An erster Stelle stand da unangefochten: Revolution . Die an sich nichts Schlechtes sein musste, dachte Paolo, weder als Ereignis noch als Begriff. Ganz im Gegenteil. Schlimm war es, wenn es eben nur das Wort gab, die Sache, das Ereignis aber nicht. 1789 in Frankreich gab es das Wort und auch das Ereignis. Und im Europa des Jahres 1848 verbreitete sich das Wort, vor allem aber die Sache. Ebenso im Russland des Jahres 1917 oder auf Kuba 1959, immer gab es beides. Im Italien des Jahres 1979 aber nicht, so unermüdlich, fast besessen das Wort Revolution auch skandiert, auf Flugblättern gedruckt und an Wände geschmiert werden mochte. Die Sache, die es bezeichnete, war nirgends zu erkennen. Die Menschen hatten sich nicht mit Heugabeln bewaffnet, die Wähler nicht das Wählen eingestellt, die Bürger nicht das Parlament angezündet.
    Dabei hatten im Jahr zuvor, als mit dieser brutalen, generalstabsmäßig geplanten Aktion der hohe Politiker entführt und seine gesamte Eskorte getötet wurde, viele gedacht, nun würde im Land die Revolution ausbrechen. Aber so war es nicht. Was da geschah, wurde anders genannt: Gewalt . Und das Land beweinte deren Opfer.
    So erklärte sich Paolo die Abläufe. Im Grunde war es ganz einfach: Wenn Begriff und Tat zusammenfielen, wurde Geschichte gemacht. Aber wenn das Wort alleine stand, war es Wahnsinn. Oder Selbstbetrug. Mystifizierung.
    Und wie hässlich waren auch diese Worte, von denen es in Flugblättern, in den Aussagen vor Gericht, in den Gesprächen mit seinem Sohn nur so wimmelte. Paolo hatte gelernt, dass akkumulieren das »Zusam mentragen von Informationen über das nächste Atten tatsopfer« bedeutete. Segregieren: die Abschottung von anderen Bandenmitgliedern im Untergrund. Eigenfinan zierung: Banküberfall. Proletariat: die Bandenmitglieder und ihre Sympathisanten, gänzlich unabhängig von deren wirklicher sozialer Schicht. Ideologische Superfetation: Hier musste Paolo das Handtuch werfen – was damit gemeint war, hatte er nie herausfinden können.
    Und dann diese Phrasen: von der Gewalt der Gedanken zum Gedanken der Gewalt; den Kampf auf die nächste Ebene heben; Einfache Aussagen wie ›ich möchte mit dir reden‹ verkamen zu ideologischem Schwulst: ›ich habe dir etwas zu sozialisieren‹ . Selbst ein Wort wie Krieg , das an sich schon so furchtbar war, dass es sich kaum steigern ließ, nahm im Mund seines Sohnes etwas Lächerliches und gleichzeitig Erbarmungsloses an: »Wir befinden uns im Krieg, Papa, und jeder muss für sich entscheiden, auf welcher Seite er steht.«
    Ach, wie arm, hässlich, selbstbetrügerisch war doch diese Sprache. Der Höhepunkt dieser Pervertierung wurde in einer Verhandlungssitzung erreicht, als die

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