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Ueber Meereshoehe

Ueber Meereshoehe

Titel: Ueber Meereshoehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Francesca Melandri
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Angeklagten auf die Nachricht von einem weiteren Mord, den ihre sich auf freiem Fuß befindlichen Ge nossen verübt hatten, mit einem Satz von Lenin reagierten und zu skandieren begannen:
    Â»In der Klassengesellschaft ist der Tod des Klassenfeinds der höchste Akt der Menschlichkeit.«
    Als sein Sohn einmal mit ihm über eines seiner Opfer sprach, sagte er:
    Â»Wenn er brav gewesen wäre, hätte ich ihm nur ins Bein geschossen. Aber der hat einen hysterischen Anfall bekommen, und deshalb musste ich ihn erschießen.«
    Â»Wenn er brav gewesen wäre!? Wenn er brav gewesen wäre!?«, hatte Paolo ihn angeschrien.
    Die anderen Gespräche in dem Besucherraum waren verstummt, und alle – Wärter, Häftlinge und Besucher – hatten sich zu ihm umgedreht und ihn angestarrt. Aber Paolo war so außer sich vor Wut, dass er es gar nicht merkte. Dies war der einzige Besuch, den er vorzeitig abbrach. Er stand auf und entfernte sich mit langen, hastigen Schritten, voller Zorn, der sich, kaum hatte er das Gefängnis verlassen, in kalte Trauer verwandelte. Danach fühlte er sich noch wochenlang wie im Eis gefangen.
    Ein anderes Mal erfuhr er, dass ein Zellengenosse seines Sohnes gestorben war. Er erinnerte sich gut an diesen abgehärmten jungen Mann mit dem pickli gen Gesicht. Während der Verhandlungen hatte er die ganze Zeit zu Boden gestarrt und war nur aus seiner Lähmung erwacht, um sich den anderen anzu schließen, wenn Parolen skandiert wurden. Einmal hatten ein Genosse und eine Genossin im Käfig der Angeklagten, direkt vor aller Augen, mit sexuellen Handlungen begonnen. Im Nu kam es zu chaotischen Szenen: Die Angehörigen der Opfer schrien ihre Empörung hinaus, die Angeklagten konterten mit höh nischen Rufen, die Richter flehten, die Würde des Gerichts zu respektieren. Dieser junge Mann aus der Gruppe war der Einzige, der sich nicht rührte. Bewegungslos, schweigend, das Kinn auf die Brust ge sunken, die Augen aufgerissen, hatte er nur weiter vor sich hin gestiert.
    Paolo fragte, woran er gestorben sei. Das Gesicht seines Sohnes war so trüb wie sumpfiges Wasser geworden.
    Â»Er war ein Verräter«, antwortete er. »Er hat die Gruppe verraten. Wenn einer aussteigen will, kann er das tun, aber er muss es offen sagen. Das hat er nicht getan. Zwei andere Genossen und ich waren gezwungen zu intervenieren.«
    Intervenieren .
    Noch so ein krankes Wort.
    Und Paolo hatte gespürt, dass er froh war, ja, froh, dass Emilia damals bereits seit Monaten tot war.
    Jetzt bemühte er sich, die Worte zu verscheuchen, die ihm den Schlaf raubten. Wenn dies geschah, und das war nicht selten, versuchte er, an andere Worte zu denken, die lebendiger, farbiger, nicht so abgedroschen waren, etwa erblassen, Walfisch, Klarinette . Emilia hatte früher, als junges Mädchen, das Wort benebelt gemocht, dann später, in mittleren Jahren, war Mäuse dorn – ein immergrüner Strauch – ihr Lieblingswort geworden. Auch Meeräsche ist schön, dachte Paolo, ein überraschendes Wort, dahinter steckt nicht unbedingt das, was man erwartet, aber wenn man es sich auf der Zunge zergehen lässt, ist es wie ein Lockruf. Und Maestrale , das war wirklich ein guter Name für einen Sturm, sehr viel passender als etwa Libeccio oder Scirocco . Charismatisch, überlegen, streng. Unbestechlich.
    Er dachte zurück an die vielen Dinge, die er heute gesehen hatte und deren Bezeichnung er nicht kannte. Die komischen Vögel mit den kartoffelförmigen Körpern, die mit konzentriertem Blick das Wasser abgesucht hatten, während Nitti fischte. Die vielen verschiedenen Sträucher, die die Schotterstraße säumten. Die Felsen mit ihren je eigenen Farben und Formen. Ihm hatten die Bezeichnungen nicht gefehlt. Überhaupt nicht. Auch diese Insel, dachte Paolo, wäre sehr gut ohne ihren Namen ausgekommen. Die Insel war da, und nur darauf kam es an.
    Ja, das war es. Die Revolution , von der sein Sohn sprach, war ein klangvolles Wort für einen erbärmlichen Gegenstand; bei dieser Insel verhielt es sich genau umgekehrt.
    Auch Luisa schlief nicht. Mit geschlossenen Augen ruhte sie auf der von der Plastikhülle befreiten Matratze, doch in ihrem Kopf rasten die Gedanken. Sie dachte an ihre ausgeweideten Räuchersalami, an die Schnecken, die sie als kleines Mädchen gesammelt hatte. Daran, wie nach dem Unfall alle gelacht hatten, außer ihr, und wie

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