Über mir der Himmel - Nelson, J: Über mir der Himmel
denke ich daran, dass sie ihren Schreibtisch nie mehr nach einem Notizbuch, einer Adresse, einem Stift durchwühlen wird, und der Atem zischt aus meinem Körper bei dem einen Gedanken: Bailey ist in dieser luftlosen Kiste -
Nein . Ich schubse dieses Bild in eine Kammer und schließe die Tür mit einem Fußtritt. Dann mache ich die Augen zu, atme ein, zwei, drei Züge, und als ich sie wieder öffne, starre ich schon wieder das Bild von der forschungsreisenden Mom an. Ich berühre das brüchige Papier, spüre das Wachs des Farbstiftes, als ich mit den Fingern über die verblassende Gestalt streiche. Ob ihre menschliche Entsprechung wohl ahnt, dass eine ihrer Töchter mit neunzehn Jahren gestorben ist? Ob sie einen kalten Wind oder eine Hitzewallung verspürt hat oder einfach nur gefrühstückt oder sich den Schuh geschnürt hat wie an irgendeinem anderen gewöhnlichen Augenblick in ihrem außergewöhnlichen Wanderleben?
Grama hat uns erzählt, dass unsere Mutter Forschungsreisende war, weil sie nicht wusste, wie sie sonst erklären sollte, dass Mom das besitzt, was von den Walkers seit Generationen als das »Rastlosigkeits-Gen« bezeichnet wird. Grama zufolge ist unsere Familie schon immer von dieser
Rastlosigkeit geplagt worden, hauptsächlich traf es die Frauen. Die Betroffenen waren immer auf Achse, sie gingen von Stadt zu Stadt, Kontinent zu Kontinent, Liebe zu Liebe – und deshalb, so hat uns Grama erklärt, hatte Mom auch keine Ahnung, wer unsere Väter waren, also wussten wir es auch nicht -, bis sie erschöpft waren und heimkehrten.
Grama erzählte uns, dass ihre Tante Sylvie und ihre entfernte Cousine Virginia dasselbe Leiden hatten, und nachdem sie viele Jahre abenteuernd über den Globus gezogen waren, hatten sie den Weg zurück gefunden. Wie alle anderen vor ihnen. Es ist ihr Schicksal wegzugehen, erzählte sie uns, und es ist ebenso ihr Schicksal zurückzukehren.
»Kriegen Jungs das nicht?«, fragte ich Grama, als ich zehn Jahre alt und in der Lage war, »das Leiden« besser zu verstehen. Wir waren gerade auf dem Weg an den Fluss zum Schwimmen.
»Natürlich kriegen sie das auch, kleine Wicke.« Aber dann blieb sie mitten auf dem Weg stehen, nahm meine Hände und sprach in einem selten feierlichen Ton. »Ich weiß nicht, ob man das in deinem reifen Alter verstehen kann, Len, aber das ist so: Wenn Männer es haben, dann scheint es keiner zu bemerken, sie werden Astronauten oder Piloten oder Kartografen, Verbrecher oder Dichter. Sie bleiben nicht lange genug an einem Ort, um zu wissen, ob sie ein Kind gezeugt haben oder nicht. Wenn Frauen es kriegen, nun ja, es ist kompliziert, dann ist es einfach anders.«
»Wie denn?«, fragte ich. »Wie anders?«
»Na ja, zum Beispiel ist es doch nicht üblich für eine
Mutter, ihre beiden Mädchen so viele Jahre nicht zu sehen, oder?«
Da hatte sie recht.
»Deine Mutter ist schon so zur Welt gekommen, sie ist praktisch aus meinem Bauch in die Welt hineingeflogen. Vom ersten Tag an ist sie gerannt, gerannt, gerannt.«
»Weggerannt?«
»Nein, nein, Lennie, nie weg, das weiß ich.« Sie drückte meine Hand. »Sie ist immer auf etwas zugerannt.«
Auf was?, denke ich und stehe von Baileys Tisch auf. Worauf ist meine Mutter damals zugerannt? Worauf rennt sie jetzt zu? Was war Bailey? Was bin ich?
Ich gehe zum Fenster, ziehe die Gardine ein Stück zurück und sehe Toby unter dem Pflaumenbaum sitzen, unter den hellen Sternen auf dem grünen Gras, in der Welt. Lucy und Ethel liegen wie hingegossen über seinen Beinen – es ist wirklich erstaunlich, dass diese Hunde nur vorbeischauen, wenn er kommt.
Ich weiß, ich sollte das Licht ausmachen, zu Bett gehen und mich nach Joe Fontaine sehnen, aber eben das tu ich nicht.
Ich gehe zu Toby unter den Baum und wir schleichen in den Wald zum Fluss, wortlos, als hätten wir es schon seit Tagen so geplant. Ethel und Lucy laufen ein paar Schritte hinter uns her, aber dann hat Toby eine unergründliche Unterredung mit ihnen, nach der sie umdrehen und heimwärts trotten.
Ich führe ein Doppelleben: bei Tag Lennie Walker, bei Nacht Hester Prynne.
Egal, was passiert, schärfe ich mir ein, ich werde ihn nicht küssen.
Die Nacht ist warm und windstill und der Wald ruhig und verlassen. Seite an Seite gehen wir durch die Stille, lauschen dem trillernden Lied einer Drossel. Sogar in der mondbeschienenen Stille sieht Toby sonnengetränkt und windgepeitscht aus, wie auf einem Segelboot.
»Ich hätte nicht kommen sollen,
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