Über mir der Himmel - Nelson, J: Über mir der Himmel
wage nicht aufzuschauen, aus Angst, mir diese Worte und diesen süßen, vorsichtig tastenden Klang nur eingebildet zu haben. Aber wenn ich das getan habe, dann habe ich mir noch mehr davon eingebildet. »Ich hab daran gedacht, wie irre traurig du bist und …«
Er hat aufgehört zu reden. Und was ? Ich hebe den Kopf und sehe, dass auch er meine Schuhe inspiziert. »Okay«, sagt er und schaut mir in die Augen. »Mir kam da dieses Bild von uns beiden in den Sinn, wie wir uns oben auf der
großen Wiese oder so an den Händen halten und dann abheben.«
Whoa – damit habe ich nicht gerechnet, aber es gefällt mir. »À la St. Joseph?«
Er nickt. »Der Gedanke gefiel mir.«
»Und wie sind wir gestartet?«, frage ich. »War das so was wie ein Raketenstart?«
»Ganz und gar nicht, eher ein müheloses Abheben – im Stil von Supermann.« Er hebt einen Arm und legt den anderen um seine Gitarre, um es zu demonstrieren. »Du weißt Bescheid.«
Ich weiß Bescheid. Ich muss ihn nur ansehen, um zu lächeln. Und ich weiß, dass seine Worte etwas in mir entfalten. Ich weiß auch, dass eine dicke Nebelgardine um die Veranda herum uns vor der Welt verbirgt.
Ich möchte es ihm gestehen.
»Es ist nicht so, dass ich nicht mit dir spielen will«, sage ich schnell, damit ich den Mut nicht verliere. »Es ist nur so, ich weiß nicht, es ist anders. Spielen, meine ich.« Den Rest zwinge ich heraus. »Ich wollte nie erste Klarinette sein, wollte die Soli nicht spielen, wollte überhaupt nichts in der Richtung. Ich hab es vergeigt, das Vorspielen … mit Absicht.« Das habe ich zum ersten Mal laut zu jemandem gesagt und die Erleichterung ist enorm. Ich rede weiter. »Ich hasse es, Solo zu spielen, wahrscheinlich verstehst du das nicht. Es ist nur so …« Unfähig, Worte zu finden, fuchtele ich mit dem Arm herum, doch dann zeige ich mit der Hand in Richtung Flying Man’s. »Das ist so ähnlich, wie im Fluss von Stein zu Stein zu springen, aber in so einem
dicken Nebel wie hier und ganz allein und jeder Schritt ist …«
»Ist was?«
Plötzlich wird mir klar, wie lächerlich sich das anhören muss. Ich hab keine Ahnung, wovon ich da rede, überhaupt keine Ahnung. »Nicht so wichtig«, sage ich.
Er zuckt die Schultern. »Haufenweise Musiker haben Angst, auf die Fresse zu fallen.«
Ich höre das gleichmäßige Rauschen des Flusses, der Nebel scheint sich geteilt zu haben, um das Geräusch durchdringen zu lassen.
Es ist nicht nur das Lampenfieber. Marguerite hat das auch gedacht. Deshalb, dachte sie, hätte ich aufgehört. Du musst an deinen Nerven arbeiten, Lennie, die Nerven – aber es ist mehr als das, viel mehr. Wenn ich spiele, dann ist es so, als ob ich in mir eingesperrt bin, bedrängt und ängstlich, wie ein Springteufel, nur ohne Feder. Und so ist es nun schon seit über einem Jahr.
Joe bückt sich und blättert die Noten in seinem Kasten durch, viele der Seiten sind handgeschrieben. Er sagt: »Lass es uns einfach mal versuchen. Gitarre und Klarinette sind cool im Duett, Neuland.«
Allzu ernst nimmt er mein großes Geständnis ganz bestimmt nicht. Das ist ein Gefühl, als hätte man sich endlich dazu durchgerungen, beichten zu gehen, und stellt danach fest, dass der Priester Ohrstöpsel getragen hat.
Ich sag zu ihm: »Irgendwann mal, vielleicht«, damit er das Thema fallen lässt.
»Wow.« Er grinst. »Wie ermutigend.«
Und dann bin ich anscheinend verschwunden. Er beugt sich über die Saiten, stimmt die Gitarre mit derart leidenschaftlicher Hingabe, dass ich denke, ich sollte lieber weggucken. Aber das kann ich nicht. Ehrlich gesagt, ich glotze total und überlege, wie das wohl ist, wenn man so cool und lässig und furchtlos und leidenschaftlich und so irre lebendig ist wie er – und für den Bruchteil einer Sekunde will ich mit ihm spielen. Ich will die Vögel stören.
Später, als er spielt und spielt, als der Nebel weggesengt worden ist, finde ich, dass er recht hat. Genau so ist es nämlich, ich bin irre traurig und irgendwo tief in meinem Inneren will ich nur eins: fliegen.
10. Kapitel
(Gefunden unter einem Stein in Gramas Garten)
WIE GEWÖHNLICH kann ich nicht schlafen und sitze an Baileys Schreibtisch mit dem heiligen Antonius in der Hand. Mir graut davor, ihre Sachen zusammenpacken zu müssen. Heute, als ich vom Lasagneeinsatz im Deli heimkam, standen offene Pappkartons neben ihrem Schreibtisch. Noch habe ich keine Schublade aufgezogen. Ich kann es nicht. Jedes Mal wenn ich die Holzknäufe berühre,
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