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Über mir der Himmel - Nelson, J: Über mir der Himmel

Über mir der Himmel - Nelson, J: Über mir der Himmel

Titel: Über mir der Himmel - Nelson, J: Über mir der Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jandy Nelson
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dachte, sie wäre ein für alle Male verschwunden.«
    Joe scheint diesen Ausbruch ganz gut zu verkraften. Er hat sich auf seinem Stuhl zurückgelehnt, schaukelt auf den beiden hinteren Beinen und wirkt recht gut unterhalten, es ist ganz so, als würde er zusehen, wie drei Menschen mit gebrochenem
Herzen völlig den Verstand verlieren. Ich fasse mich so weit, dass ich Joe unter Tränen und einem Restkichern die Geschichte der Topfblume erzählen kann. Wenn er nicht längst der Meinung war, ich hätte eine Einweisung ins örtliche Irrenhaus verdient, dann sicher jetzt. Zu meiner Überraschung erfindet er keine Entschuldigung und rast zur Tür hinaus, sondern nimmt den kritischen Zustand recht ernst, so, als sei ihm tatsächlich am Schicksal der unscheinbaren, kränklichen Pflanze gelegen, die sich nicht wiederbeleben lassen will.
    Nach dem Frühstück gehen Joe und ich auf die Veranda, die noch immer unheimlich in Morgennebel gehüllt ist. In dem Augenblick, in dem sich die Fliegentür hinter uns schließt, sagt er: »Ein Stück«, als ob überhaupt keine Zeit vergangen wäre, seit wir im Baum gesessen haben.
    Ich lehne mich ans Geländer und verschränke die Arme vor meiner Brust. »Du spielst. Ich höre zu.«
    »Kapier ich nicht«, sagt er. »Was hab ich davon?«
    »Ich will nicht.«
    »Aber warum? Du suchst was aus, egal, was.«
    »Ich hab dir doch gesagt, ich will nicht -«
    Er fängt an zu lachen. »Gott, ich fühl mich ja, als würde ich dich drängen, mit mir zu schlafen oder so.« Jeder Milliliter Blut im Umkreis von zehn Meilen schießt mir in die Wangen. »Komm schon. Ich weiß, dass du es willst …«, scherzt er und zieht die Augenbrauen hoch wie ein Vollidiot. Was ich will, ist mich am liebsten unter der Veranda verstecken, aber sein völlig durchgeknalltes Grinsen bringt mich zum Lachen. »Wetten, du magst Mozart«, sagt er,
hockt sich hin und macht seinen Kasten auf. »Alle Klarinettistinnen mögen ihn. Oder bist du vielleicht eine Anhängerin von Bachs Kirchenmusik?« Er blinzelt mich an. »Nee, nee, so siehst du mir nicht aus.« Er holt seine Gitarre heraus, setzt sich auf die Tischkante und schwenkt sie aufs Knie. »Ich hab’s. Keine Klarinettistin, in deren Adern Blut fließt, kann dem Gypsy Jazz widerstehen.« Er spielt ein paar feurige Akkorde. »Hab ich recht? Ach, ich weiß!« Mit der Hand spielt er einen Rhythmus auf der Gitarre, mit dem Fuß stampft er auf den Boden: »Dixieland!«
    Der Typ ist besoffen vom Leben, denke ich, gegen ihn ist Candide ein Sauertopf. Weiß er überhaupt, dass so was wie der Tod existiert?
    »Also, wessen Idee war das?«, frage ich ihn.
    Er hört mit dem Fingergetrommel auf.
    »Welche Idee?«
    »Dass wir zusammen spielen. Du hast gesagt …«
    »Ach, das. Marguerite St. Denis ist eine alte Freundin der Familie – ich geb ihr die Schuld daran, dass wir jetzt hier im Exil sind. Sie könnte so etwas fallen gelassen haben wie: Lennie Walker joue de la clarinette comme un rève .« Er wirbelt mit der Hand in der Luft herum wie Marguerite. » Elle joue a ravir, de merveille .«
    Mich überfällt irgendwas, alles Mögliche, Panik, Stolz, Schuld, Übelkeit – es ist so stark, dass ich mich am Geländer festhalten muss. Was hat sie ihm wohl noch erzählt?
    » Quel catastrophe «, fährt er fort. »Denn, weißt du, ich dachte, ich wäre ihr einziger Schüler, der traumhaft spielt.« Anscheinend gucke ich verwirrt, denn er erklärt: »In Frankreich.
Fast jeden Sommer hat sie am Konservatorium unterrichtet.«
    Während ich die Tatsache verdaue, dass meine Marguerite auch Joes Marguerite ist, sehe ich Big mit dem Besen über dem Kopf am Fenster hin- und herschießen, auf der Suche nach Tieren, die er wiederauferstehen lassen kann. Joe scheint das nicht zu bemerken, wahrscheinlich ist das auch gut so. Er sagt: »Das war ein Witz, das mit mir, die Klarinette war nie mein Ding.«
    »Da hab ich aber was anderes gehört«, sage ich. »Ich hab gehört, du warst fabelhaft .«
    »Rachel hat nicht so ein dolles Ohr«, antwortet er sachlich, ohne beleidigend zu wirken. Ihr Name geht ihm zu leicht von den Lippen, so, als würde er ihn immerzu aussprechen, wahrscheinlich unmittelbar bevor er sie küsst. Wieder spüre ich, wie mein Gesicht rot anläuft. Ich schaue nach unten und unterziehe meine Schuhe einer Prüfung. Was ist bloß los mit mir? Also, wirklich. Er will einfach nur mit mir Musik machen, wie ganz normale Musiker das tun.
    Dann höre ich: »Ich hab an dich gedacht …«
    Ich

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