Über mir der Himmel - Nelson, J: Über mir der Himmel
Len.«
»Wahrscheinlich nicht.«
»Hab mir Sorgen um dich gemacht«, sagt er leise.
»Danke«, sage ich und der Umhang des »Gehtschon«, in den ich mich vor allen anderen hülle, rutscht mir von den Schultern.
Beim Gehen atmet jeder unserer Pulsschläge Traurigkeit. Fast rechne ich damit, dass die Bäume ihre Äste senken, als wir vorbeigehen, die Sterne uns etwas Licht nach unten reichen. Ich sauge den pferdigen Geruch von Eukalyptus ein und den der zuckersüßen Pinie, spüre ganz bewusst jeden Atemzug, spüre, wie er mich ein paar Sekunden länger auf der Welt hält. Ich schmecke die Süße der Sommerluft auf der Zunge und will einfach trinken und trinken, alles in meinen Körper schlingen – diesen lebendigen, atmenden, herzschlagenden Körper.
»Toby?«
»Hmm?«
»Fühlst du dich lebendiger seit …« Ich habe Angst, diese Frage zu stellen, so als würde ich etwas Peinliches enthüllen, aber ich will wissen, ob er es auch fühlt.
Er zögert nicht. »Seitdem fühle ich alles mehr.«
Ja, denke ich, es ist alles mehr. Als ob jemand den Schalter der Welt umgelegt hat und jetzt ist alles an, inklusive mir und allem in mir, Schlechtes und Gutes, alles ist bis zum Maximum aufgedreht.
Er reißt einen Zweig von einem Ast und bricht ihn zwischen den Fingern. »Ich mach nachts immer wieder diese echt blöden Sachen auf meinem Brett«, sagt er, »so knallharte-Arschloch-Tricks, die nur angeberische Affen wagen, und ich mach das allein … und ein paar Mal total breit.«
Toby ist einer unter einer Handvoll von Skatern in unserer Stadt, die regelmäßig und ziemlich spektakulär der Schwerkraft trotzen. Wenn er meint, er würde sich in Gefahr bringen, dann ist das ausgewachsener Kamikaze.
»Das würde sie nicht wollen, Toby.« Ich kann diesen bittenden Ton nicht aus meiner Stimme heraushalten.
Er seufzt frustriert. »Ich weiß das, ich weiß.« Er beschleunigt seinen Schritt, so als wollte er hinter sich lassen, was er mir eben erzählt hat.
»Sie würde mich umbringen«, sagt er mit so einer Endgültigkeit und so leidenschaftlich, dass ich mich frage, ob er vom Skaten redet oder von dem, was zwischen uns vorgefallen ist.
»Ich tu das nicht wieder«, betont er.
»Gut«, sage ich, immer noch nicht ganz sicher, worauf er sich bezieht, aber wenn es um uns geht, dann muss er sich doch keine Sorgen machen, oder? Ich habe die Gardinen zugezogen gelassen. Ich habe Bailey versprochen, dass nie wieder was passiert.
Allerdings sauge ich ihn schon bei diesem Gedanken mit
den Augen in mich hinein, seine breite Brust und die starken Arme, seine Sommersprossen. Ich erinnere mich an seinen Mund, so hungrig auf meinem, seine großen Hände in meinem Haar, die Hitze in mir, wie ich mich dabei gefühlt habe -
»Das ist einfach nur halsbrecherisch …«, sagt er.
»Ja.« Das war wohl ein bisschen zu atemlos dahingehaucht.
»Len?«
Riechsalz! Her damit!
Er sieht mich komisch an, aber dann scheint er in meinen Augen zu lesen, was in meinem Kopf vorgeht, denn seine Pupillen werden irgendwie ganz groß und schlagen Funken, ehe er schnell wegguckt.
REISS DICH ZUSAMMEN, LENNIE.
Schweigend gehen wir durch den Wald, und das bringt mich wieder zur Vernunft. Die Sterne und der Mond bleiben größtenteils hinter dem dicken Blätterdach verborgen, mir kommt es vor, als würde ich durch Dunkelheit schwimmen, mein Körper zieht seine Bahn durch die Luft wie durch Wasser. Mit jedem Schritt vorwärts wird das Rauschen des Flusses lauter, und das erinnert mich an Bailey, Tag für Tag, Jahr um Jahr, wir beide auf diesem Pfad, ins Gespräch vertieft – ins Wasser springen und dann endlos auf den Felsen in der Sonne liegen -
Ich flüstere: »Ich bin zurückgelassen worden.«
»Ich auch …«, flüstert er zurück. Seine Stimme bricht. Er sagt nichts weiter, sieht mich nicht an; er nimmt einfach meine Hand, hält sie fest und lässt auch dann nicht los, als
die Baumdecke über uns dichter wird und wir tiefer in die voranschreitende Dunkelheit vordringen.
Ich sage leise: »Ich fühl mich so schuldig«, und hoffe fast, die Nacht saugt meine Worte auf, bevor Toby sie hört.
»Ich auch«, flüstert er zurück.
»Aber da ist noch was anderes, Toby …«
»Was?«
Bei all der Dunkelheit um mich herum und mit meiner Hand in Tobys habe ich das Gefühl, ich kann es sagen. »Ich hab Schuldgefühle, weil ich immer noch hier bin …«
»Lass das. Bitte, Len.«
»Aber sie war immer so viel … mehr -«
»Nein.« Er lässt mich nicht
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