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Über mir der Himmel - Nelson, J: Über mir der Himmel

Über mir der Himmel - Nelson, J: Über mir der Himmel

Titel: Über mir der Himmel - Nelson, J: Über mir der Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jandy Nelson
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Treiben, als ich hereinstolpere.
    »Morgen, John Lennon«, sagt Joe und schaut von seinen Gitarrensaiten hoch und sieht mich mit einem Grinsen an, bei dem mir der Unterkiefer runterklappt. Warum mache ich bloß mit Toby rum, Baileys Toby, denke ich, als ich den hammerhaften, megaunglaublichen Joe Fontaine zurück anlächele, der allem Anschein nach in unsere Küche eingezogen ist. Alles ist komplett durcheinander, der Junge, der mich küssen sollte, führt sich auf wie ein Bruder, und der
Junge, der sich wie ein Bruder aufführen sollte, küsst mich immer. Tss tss.
    »He, John Lennon«, sagt Grama wie ein Echo.
    Unglaublich. Das ist ja ansteckend! »Nur Joe darf mich so nennen«, knurre ich sie an.
    »John Lennon!« Big wirbelt in die Küche, nimmt mich in die Arme und tanzt mit mir durch den Raum. »Wie geht es meinem Mädchen heute?«
    »Warum sind denn alle so guter Laune?« Ich komme mir vor wie Scrooge.
    »Ich habe keine gute Laune«, sagt Grama von einem Ohr zum anderen strahlend, wie Joes Abbild. Ihr Haar ist trocken, fällt mir auf. Kein Trauerduschen heute Morgen. Das war das erste Mal. »Letzte Nacht hatte ich eine Idee. Es ist eine Überraschung.« Joe und Big werfen einen Blick zu mir herüber und zucken die Achseln. Auf der Bizarritätsskala können Gramas Ideen häufig mit denen von Big konkurrieren, allerdings glaube ich kaum, dass es in diesem Fall um Explosionen oder Nekromantie gehen wird.
    »Wir wissen auch nicht, was es ist, Schatz«, dröhnt Big in einem für acht Uhr morgens völlig unpassenden Bariton. »Noch eine Schlagzeile: Joe hatte heute Morgen eine Erleuchtung: Er hat die Lennie-Topfblume unter eine der Pyramiden gestellt, ich weiß wirklich nicht, warum ich nicht darauf gekommen bin.« Big kann vor Aufregung gar nicht an sich halten, er lächelt Joe jetzt an wie ein stolzer Vater. Ich frage mich, wie Joe hier einfach so reinschlüpfen konnte. Vielleicht, weil er sie nicht gekannt hat, nicht eine Erinnerung an sie hat. Er ist wie die Welt ohne unsere abgrundtiefe Trauer –
Mein Handy klingelt. Ich werfe einen Blick auf das Display. Toby. Ich lasse den Anruf auf die Mailbox gehen und komme mir vor wie der schlechteste Mensch der Welt, weil ich nur seinen Namen sehe und schon wird die Erinnerung an die letzte Nacht wach und mein Magen macht eine Reihe von Verrenkungen. Wie konnte ich das nur geschehen lassen?
    Ich schaue auf, alle Augen sind auf mich gerichtet, sie fragen sich, warum ich nicht ans Telefon gegangen bin. Ich muss raus aus der Küche.
    »Willst du spielen, Joe?«, sage ich und mache mich auf nach oben, um meine Klarinette zu holen.
    »Heilige Scheiße«, höre ich und dann entschuldigt er sich bei Grama und Big.
    Draußen auf der Veranda sage ich: »Du fängst an, ich folge.«
    Er nickt und fängt an, ein paar süße, leise Akkorde in g-moll zu spielen. Aber ich hab nicht die Nerven für süß und auch nicht für leise. Ich kann weder Tobys Anruf abschütteln noch seine Küsse. Ich kann die Pappkartons nicht abschütteln, das Parfum, das nie aufgebraucht werden wird, Lesezeichen, die sich nicht von der Stelle bewegen, Statuetten vom heiligen Antonius, die es tun. Ich kann die Tatsache nicht abschütteln, dass Bailey sich im Alter von elf Jahren nicht mit auf das Bild von unserer Familie gemalt hat – plötzlich bin ich unglaublich aufgewühlt und vergesse, dass ich Musik mache, vergesse sogar Joe neben mir.
    Ich denke an all die Dinge, die ich nicht gesagt habe, seit Bailey gestorben ist, all die Worte, die tief in meinem Herzen
verstaut sind, in unserem orangefarbenen Zimmer, all die Worte auf der ganzen Welt, die nicht gesagt werden, nachdem jemand gestorben ist, weil sie zu traurig, zu wütend, zu hilflos, zu schuldig sind, um herausgelassen zu werden – und sie alle fangen an, in mir zu toben wie ein außer Rand und Band geratener Fluss. Ich sauge so viel Luft ein, wie ich nur kann, bis in Clover wahrscheinlich für sonst niemanden mehr Luft übrig ist, dann stoße ich sie wie einen Taifun mit einem einzigen, irre blökenden Ton hinaus. Keine Ahnung, ob schon einmal ein so schreckliches Geräusch aus einer Klarinette gekommen ist, aber ich kann nicht aufhören, all die Jahre brechen sich jetzt Bahn … Bailey und ich im Fluss, im Meer, gemütlich in unserem Zimmer, auf den Rücksitzen von Autos, in Badewannen, wie wir durch die Bäume laufen, durch Tage und Nächte, Monate und Jahre ohne Mom – ich schlage Scheiben ein, breche durch Wände, verbrenne die Vergangenheit,

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