Über mir der Himmel - Nelson, J: Über mir der Himmel
durchziehen könnte. Mein Magen ist unruhig, als wir die Stufen hochsteigen, an Lucy und Ethel vorbeigehen, die natürlich ausgestreckt auf der Veranda liegen und warten, dass Toby wieder nach draußen kommt, und natürlich rühren sie sich nicht vom Fleck. Wir stoßen die Tür auf und gehen über den Flur ins Wohnzimmer. Der Raum ist von Kerzen erleuchtet, die Luft vom süßen Duft des Salbeis geschwängert.
In der Mitte des Raumes sitzen DougFred und Marcus auf zwei der verbliebenen Stühle und spielen Flamencogitarre. Die Halbmutter schwebt über ihnen, als lauschte sie den rauen, feurigen Akkorden, die vom Haus Besitz ergreifen. Onkel Big ragt am Kaminsims auf und klatscht den heißen Takt auf seinen Schenkel. Und Toby steht auf der anderen Seite des Raumes, isoliert von allen anderen, und sieht so einsam aus, wie ich mich vorhin gefühlt habe – sofort
taumelt mein Herz ihm entgegen. Er lehnt sich ans Fenster, sein goldenes Haar und seine Haut schimmern im flackernden Licht. Mit einer unangemessen habichtartigen Intensität, die Joe nicht entgeht, beobachtet er, wie wir in den Raum kommen, und ein Frösteln durchrieselt mich. Ohne einen Blick zur Seite kann ich Joes Befremden spüren.
Unterdessen stelle ich mir vor, dass meine Füße Wurzeln schlagen, damit ich nicht quer durch den Raum in Tobys Arme fliege, denn ich habe ein riesiges Problem. Sogar in diesem Haus, an diesem Abend, in Anwesenheit all dieser Leute, an der Seite von Joe-dem-Fabelhaften-Fontaine, der sich nicht mehr aufführt wie mein Bruder, spüre ich immer noch dieses unsichtbare Seil, das mich durch den Raum zu Toby zieht – und ich scheine nichts dagegen tun zu können.
Ich drehe mich zu Joe um, den ich so noch nie gesehen habe: unglücklich, ganz steif vor Verwirrung, sein Blick geht von Toby zu mir und wieder zurück. Ganz so, als würden all diese Augenblicke zwischen Toby und mir, die es nie hätte geben sollen, vor Joes Füßen ausgeschüttet.
»Wer ist der Typ?«, fragt Joe ganz ohne seine übliche Gelassenheit.
»Toby.« Laut und seltsam roboterartig kommt das raus.
Joe guckt mich an, als wollte er sagen: Na, und wer ist Toby, Schwachkopf?
»Ich stell dich vor«, sage ich, denn ich hab keine Wahl und kann nicht einfach hier stehen bleiben wie vom Schlag getroffen.
Anders kann man es wirklich nicht ausdrücken: Das haut mich um.
Und zu allem Überfluss schwillt um uns herum der Flamenco an und schleudert Feuer, Sex und Leidenschaft in sämtliche Richtungen. Perfekt. Hätten sie nicht irgendeine einschläfernde Sonate aussuchen können? Walzer sind auch ganz reizend, Jungs. Mit mir auf den Fersen geht Joe durch den Raum auf Toby zu: die Sonne auf Kollisionskurs mit dem Mond.
Die Dämmerung quillt durchs Fenster und umrahmt Tobys Gestalt. Joe und ich bleiben ein paar Schritte vor ihm stehen, wir alle sind jetzt in der Unsicherheit zwischen Tag und Nacht gefangen. Um uns herum geht der feurige Aufruhr der Musik weiter und in mir ist ein Mädchen, das sich dem fanatischen Rhythmus ergeben möchte – wild und frei will sie überall in dem dröhnenden Raum herumtanzen, aber leider ist dieses Mädchen nur in mir – nicht ich. Ich hätte nämlich gern einen Unsichtbarkeitsumhang, damit ich so schnell wie möglich aus diesem Schlamassel rauskomme.
Ich schau rüber zu Joe und sehe mit Erleichterung, dass die heißen Akkorde für den Moment seine Aufmerksamkeit gefangen nehmen. Seine eine Hand spielt auf seinem Oberschenkel, mit dem Fuß trommelt er auf den Boden, der Kopf hüpft auf und ab, dass ihm das Haar über die Augen fällt. Er kann nicht aufhören, seine Brüder anzulächeln, die so wilde Töne aus ihren Gitarren schlagen, dass sie damit wahrscheinlich die Regierung stürzen könnten. Ich merke, dass ich lächele wie eine Fontaine, als ich sehe, wie die Musik durch Joe hindurchrast. Ich kann spüren, wie sehr er seine Gitarre haben will, ebenso wie ich ganz plötzlich spüren
kann, wie sehr Toby mich haben will. Verstohlen sehe ich ihn an. Wie ich vermutet hatte, beobachtet er, wie ich Joe beobachte, sein Blick ist fest auf mich geheftet. Wie haben wir uns nur in diese Lage gebracht? In diesem Augenblick ist daran nichts Tröstliches, sondern etwas anderes. Ich schaue nach unten, schreibe mit dem Finger Hilfe auf meine Jeans, und als ich wieder aufschaue, starren sich Toby und Joe in die Augen. Zwischen ihnen spielt sich stumm etwas ab, was nur mit mir zu tun hat, denn wie auf ein Stichwort wenden sie die Blicke voneinander
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