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Über mir der Himmel - Nelson, J: Über mir der Himmel

Über mir der Himmel - Nelson, J: Über mir der Himmel

Titel: Über mir der Himmel - Nelson, J: Über mir der Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jandy Nelson
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ab und richten sie auf mich, als wollten sie sagen: Was ist hier los, Lennie?
    In meinem Körper wechseln sämtliche Organe die Plätze.
    Joe legt mir die Hand leicht auf den Arm, als wollte er mich daran erinnern, den Mund aufzumachen und Worte zu bilden. Bei der Berührung lodert Tobys Blick auf. Was ist los mit ihm heute Abend? Er benimmt sich wie mein Freund, nicht wie der meiner Schwester, nicht wie jemand, mit dem ich zwei Mal unter ausgesprochen mildernden Umständen herumgemacht habe. Und was ist mit mir und dieser unerklärlichen und anscheinend unausweichlichen Kraft, die mich trotz allem zu ihm hinzieht?
    Ich sage: »Joe ist gerade in die Stadt gezogen.« Toby nickt höflich und ich klinge menschlich, ein guter Anfang. Ich will gerade sagen: »Toby war Baileys Freund«, was ich zu sagen verabscheue, wegen des »war« und weil ich mir dann vorkomme wie die Verräterin, die ich bin.
    Aber da schaut Toby mich an und sagt mir mitten ins Gesicht: »Dein Haar ist offen.« Hallo? Das sagt man doch nicht. Richtig wäre gewesen: »O, und wo kommst du her?«
oder, »Clover ist ziemlich cool.« Oder: »Bist du auch Skater?«, oder eigentlich so gut wie alles andere, nur nicht: »Dein Haar ist offen.«
    Die Bemerkung scheint Joe nichts anhaben zu können. Er lächelt mich an, als wäre er stolz darauf, dass er derjenige war, der mein Haar von seinen Fesseln befreit hat.
    Genau da bemerke ich Grama in der Tür, sie schaut uns an. Das brennende Räucherstäbchen Salbei wie einen Zauberstab haltend weht sie zu uns herüber. Sie mustert mich schnell von Kopf bis Fuß und befindet offenbar, dass ich mich erholt habe, dann zeigt sie mit ihrem Zauberstab auf Toby und sagt. »Dann will ich euch Jungs mal miteinander bekannt machen. Joe Fontaine, das ist Toby Shaw, Baileys Freund.«
    Wuuuusch – ich kann es sehen: Wie ein Wasserfall rauscht die Erleichterung über Joe hinweg. Für ihn ist der Fall erledigt, denn wahrscheinlich denkt er, da kann sich nichts abspielen – denn was wäre das für eine Schwester, die diese Art Grenze überschreitet?
    »Hey, das tut mir ja so leid«, sagt er zu Toby.
    »Danke.« Toby versucht zu lächeln, aber es kommt total falsch und gemeingefährlich rüber. Doch Joe ist so erleichtert über Gramas Enthüllung, dass ihm das nicht mal auffällt, lebensfroh wie immer dreht er sich einfach um und geht zu seinen Brüdern, Grama folgt ihm.
    »Ich werd jetzt gehen, Lennie.« Tobys Stimme ist bei der Musik kaum zu hören. Ich drehe mich um, sehe, dass Joe sich jetzt über seine Gitarre beugt und über dem Klang, den seine Finger erzeugen, alles vergisst.

    »Ich begleite dich«, sage ich.
    Toby verabschiedet sich von Grama, Big und den Fontaines, alle sind ganz erstaunt, dass er so früh geht, besonders Grama, die sich – wie ich merke – was zusammenreimt.
    Ich folge ihm bis zu seinem Truck. Lucy, Ethel und ich hecheln ihm zu Füßen. Er macht die Autotür auf, steigt nicht ein, lehnt sich gegen den Wagen. Wir stehen uns gegenüber und in seinem Gesicht ist nicht eine Spur von der Ruhe oder der Zärtlichkeit, die ich schon so gewohnt bin zu sehen. Etwas Rasendes, Unzurechnungsfähiges ist an ihre Stelle getreten. Er ist in Harter-Skater-Typ-Stimmung, und obwohl ich mich sträube, finde ich das fesselnd. Zwischen uns fließt Strom, das spüre ich, und er gerät langsam völlig außer Kontrolle in mir. Was ist das bloß? , denke ich, als er mir in die Augen schaut, auf den Mund und dann den Blick langsam und besitzergreifend über meinen Körper gleiten lässt. Warum können wir damit nicht aufhören? Ich komme mir so verwegen vor, als ob ich mit ihm auf seinem Brett durch die Luft wirbeln würde, ohne auf Sicherheit oder Konsequenzen zu achten, ohne irgendetwas anderes zu berücksichtigen als Geschwindigkeit, Waghalsigkeit und den Hunger und die Gier nach Leben – aber ich sage: »Nein. Jetzt nicht.«
    »Wann?«
    »Morgen. Nach der Arbeit«, sage ich entgegen meiner Einsicht, entgegen irgendeiner Einsicht.

    (Inschrift, gefunden auf der Wand von Baileys Schrank)

14. Kapitel
    GRAMA WEDELT MIT ihrem Salbeistab im Wohnzimmer herum wie eine zu groß geratene Fee. Tut mir leid, sag ich ihr, geht mir nicht gut, ich muss nach oben.
    Mitten im Wedeln hält sie inne. Ich weiß, sie spürt, dass es Ärger gibt, aber sie sagt: »In Ordnung, kleine Wicke.« Ich entschuldige mich bei allen und sage so arglos wie möglich Gute Nacht.
    Joe folgt mir, als ich den Raum verlasse, und ich stelle fest, dass nun

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