Über mir der Himmel - Nelson, J: Über mir der Himmel
den Sommer aus L. A. gekommen ist.
»Das ist Doug«, sagt Marcus im selben Augenblick, in dem Joe sagt: »Das ist Fred.«
»Die Eltern konnten sich nicht entscheiden«, erklärt der neueste Fontaine. Der hier wirkt total von Sinnen vor Frohsinn. Grama hat recht, wir sollten sie verkaufen.
»Er lügt«, wirft Marcus ein. »Auf der Highschool wollte Fred gern als kultiviert gelten, damit er mit einem Haufen französischer Mädchen anbändeln konnte. Er fand, Fred hätte so ein unzivilisiertes Feuersteinimage, deshalb beschloss er, seinen Mittelnamen zu benutzen, Doug. Aber daran haben Joe und ich uns nie gewöhnen können.«
»Und jetzt wird er auf zwei Kontinenten DougFred genannt«, Joe stößt seinem Bruder vor die Brust, was einen Gegenangriff mit mehreren Rippenstößen nach sich zieht. Die Fontaine-Jungs sind wie ein Wurf riesiger Welpen, die nach einander schnappend herumflitzen und in einem Wirbel aus ständiger Bewegung und gewalttätiger Liebe durch die Gegend purzeln.
Ist gemein, ich weiß, aber wenn ich sie beobachte, ihre Kumpelhaftigkeit sehe, fühle ich mich einsam wie der Mond. Ich denke daran, wie Toby und ich letzte Nacht im Dunkeln Händchen gehalten und uns am Fluss geküsst haben. Wie ich spürte, dass meine Trauer bei ihm ein zu Hause hatte.
Beim Essen verteilen wir uns ringsherum auf die Möbel, die jetzt unsere Gartenmöbel sind. Der Wind hat sich ein wenig gelegt, wir werden also nicht mit Obst beworfen. Das Hühnchen schmeckt wie Hühnchen, der Pflaumenpie wie Pflaumenpie. Noch ist es zu früh dafür, dass nicht ein Bissen Asche dabei ist.
Die Dämmerung kleckst bei ihrem gemächlichen Sommerspaziergang Pink und Orange über den Himmel. Durch die Bäume höre ich den Fluss, der verheißungsvoll rauscht -
Nie wird sie die Fontaines kennenlernen.
Nie wird sie von diesem Abendessen erfahren bei einem gemeinsamen Spaziergang an den Fluss.
Weder am Morgen wird sie nach Haus kommen noch Dienstag noch in drei Monaten.
Sie wird niemals zurückkommen.
Sie ist weg und die Welt geht ihren Gang ohne sie -
Ich kriege keine Luft, kann nicht denken oder eine Minute länger hier sitzen bleiben.
Ich will sagen: »Komm gleich wieder«, aber es kommt nichts raus, also drehe ich dem Garten voller besorgter Gesichter den Rücken zu und laufe auf den Waldrand zu. Sobald ich den Pfad erreicht hab, starte ich durch und versuche dem Schmerz davonzurennen, der mich verfolgt.
Ich bin sicher, dass Grama oder Big mir folgen werden, aber sie tun es nicht, sondern Joe. Ich bin außer Atem, und als er kommt, schreibe ich gerade auf ein Stück Papier, das ich auf dem Pfad gefunden habe. Ich werfe den Zettel hinter einen Stein und versuche, meine Tränen wegzuwischen.
Zum ersten Mal sehe ich ihn, ohne dass sich ein Lächeln irgendwo in seinem Gesicht versteckt.
»Alles in Ordnung?«, fragt er.
»Du hast sie nicht mal gekannt.« Ehe ich es verhindern kann, ist es heraus, scharf und vorwurfsvoll. Ich sehe, wie die Überraschung über sein Gesicht zieht.
»Nein.«
Mehr sagt er nicht, aber ich scheine meinem irren Alter Ego nicht das Maul stopfen zu können. »Und du hast all diese Brüder.« Das sage ich, als wäre es ein Verbrechen.
»Stimmt.«
»Ich weiß einfach nicht, warum du die ganze Zeit bei uns rumhängst.« Mein Gesicht wird heiß, Verlegenheit schlängelt sich durch meinen Körper – die eigentliche Frage ist, warum ich darauf beharre, mich wie eine ausgewachsene Wahnsinnige zu verhalten.
»Das weißt du nicht?« Seine Blicke treiben sich auf meinem Gesicht herum, dann kringeln sich seine Mundwinkel nach oben. »Ich mag dich, Lennie, was sonst.« Er guckt mich ungläubig an. »Ich finde dich faszinierend …« Wie kommt er nur darauf? Bailey ist faszinierend und Grama und Big und Mom natürlich, aber ich nicht, ich bin die Zweidimensionale in einer 3-D-Familie.
Jetzt grinst er. »Außerdem finde ich dich echt hübsch und ich bin unglaublich oberflächlich.«
Mir kommt ein furchtbarer Gedanke. Er findet mich nur hübsch, nur faszinierend, weil er Bailey nicht gekannt hat , und darauf folgt ein wirklich schrecklicher, furchtbarer Gedanke: Ich bin froh, dass er ihr nie begegnet ist . Ich schüttele den
Kopf, versuche die Gedanken zu löschen wie auf einem Zauberzeichner.
»Was denn?« Er streckt die Hand nach meinem Gesicht aus, streicht langsam mit dem Daumen über meine Wange. Seine Berührung ist so zart, dass ich erschrecke. So hat mich noch nie jemand berührt, noch nie hat mich jemand so
Weitere Kostenlose Bücher