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Über mir der Himmel - Nelson, J: Über mir der Himmel

Über mir der Himmel - Nelson, J: Über mir der Himmel

Titel: Über mir der Himmel - Nelson, J: Über mir der Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jandy Nelson
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angesehen, so tief in mich hineingeschaut wie er jetzt. Ich will mich vor ihm verstecken und ihn küssen, beides gleichzeitig.
    Und dann: Plink. Plink. Plink.
    Ich bin geliefert.
    Ich glaub, das war’s dann mit seinem brüderlichen Gastauftritt.
    »Darf ich?«, sagt er und greift nach dem Gummiband um meinem Pferdeschwanz.
    Ich nicke. Ganz langsam schiebt er es runter, dabei schaut er mir in die Augen. Ich bin hypnotisiert. Das ist ein Gefühl, als würde er mir die Bluse aufknöpfen. Als er fertig ist, schüttele ich den Kopf ein bisschen und mein Haar gerät in seinen üblichen Ekstasezustand.
    »Wow«, sagt er leise. »Das hab ich machen wollen …«
    Ich höre, wie wir atmen. Das ist vermutlich noch in New York zu hören.
    »Und was ist mit Rachel?«, sage ich.
    »Was ist mit ihr?«
    »Du und sie?«
    »Du«, antwortet er. Ich!
    Ich sage: »Tut mir leid, dass ich all das gesagt hab, vorhin …«

    Er schüttelt den Kopf, als würde das keine Rolle spielen, und dann überrascht er mich, indem er mich nicht küsst, sondern die Arme um mich schlingt. So nah an seinem Herzen, in seinen Armen, lausche ich eine Weile dem wieder auffrischenden Wind und denke, der könnte uns jetzt einfach vom Boden heben und mitnehmen.

13. Kapitel
    UNHEIMLICH KNARREN und quietschen über unseren Köpfen die trockenen Stämme der alten Mammutbäume.
    »O. Was ist das denn?«, fragt Joe. Plötzlich löst er sich von mir, schaut hoch, dann über seine Schulter.
    »Was?«, frage ich; mir ist peinlich, wie sehr ich immer noch seine Arme um mich spüren möchte. Ich versuche es mit einem Witz zu überspielen. »Mann, kannst du die Stimmung kaputt machen. Schon vergessen? Ich hab einen Zusammenbruch?«
    »Ich glaub, das reicht für heute mit dem Ausflippen«, sagt er, jetzt lächelt er und lässt seinen Finger neben der Schläfe kreisen, um anzudeuten, wie durchgeknallt ich bin. Darüber muss ich laut lachen. Wieder schaut er sich leicht panisch um. »Mal ehrlich, was war das?«
    »Hast du Angst vor dem tiefen, dunklen Wald, Stadtjunge?«
    »Na klar, wie die meisten vernünftigen Leute, denk bloß an die Löwen und Tiger und Bären – oje?« Er hakt seinen Finger in meine Gürtelschlaufe und zieht mich wieder auf
den Pfad zum Haus, dann bleibt er plötzlich stehen. »Da, das eben. Dieses unheimliche Horrorfilmgeräusch, das immer dann zu hören ist, wenn im nächsten Moment der Axtmörder angesprungen kommt und uns erwischt.«
    »Das ist das Knarren der uralten Bäume. Wenn es richtig windig ist, klingt das hier so, als ob Hunderte von Türen knarren und schlagen, alle auf einmal, das ist mehr als gruselig. Glaub nicht, dass du das verkraften könntest.«
    Er legt den Arm um mich. »Eine Mutprobe? Okay, am nächsten windigen Tag geht’s los.« Er zeigt auf sich: »Hänsel« – und dann auf mich: »Gretel.«
    Kurz bevor wir dann den Wald verlassen sage ich: »Danke, dass du mir gefolgt bist und …« Ich will ihm dafür danken, dass er den ganzen Tag damit zugebracht hat, für Grama Möbel zu rücken, dafür, dass er jeden Morgen mit toten Käfern für Big ankommt und irgendwie für die beiden da ist, wenn ich das nicht fertigbringe. Stattdessen sage ich: »Ich liebe deine Art zu spielen.« Ist auch wahr.
    »Gleichfalls.«
    »Hör auf«, sag ich. »Das war kein Spielen. Das war Tröten. Totale Blamage.«
    Er lacht. »Nee, nee. Das Warten hat sich gelohnt. Und damit liegt auf der Hand, warum ich, wenn ich wählen müsste, lieber die Sprache verlieren würde als die Fähigkeit zu spielen. Ist die bei Weitem überlegene Art der Kommunikation.«
    Dem kann ich zustimmen, Blamage hin oder her. Das Spielen war heute so, als hätte ich ein Alphabet entdeckt – es war wie verliebt sein. Er zieht mich noch näher an sich
und in mir wächst etwas, etwas, das sich so ziemlich anfühlt wie Freude.
    Ich versuche die hartnäckige Stimme in mir zu ignorieren: Wie kannst du es wagen, Lennie? Wie kannst du es wagen, so bald schon wieder Freude zu empfinden?
    Als wir aus dem Wald kommen, parkt Tobys Truck vor dem Haus, und das hat auf meinen Körper sofortige Knochen verflüssigende Wirkung. Ich drossele das Tempo, mache mich von Joe los, der mich fragend anschaut. Grama muss Toby eingeladen haben, an ihrem Ritual teilzunehmen. Ich erwäge, noch ein Ausflippen zu inszenieren und wieder in die Wälder zu rennen, damit ich nicht mit Toby und Joe im selben Raum sein muss. Aber ich bin ja nicht die Schauspielerin hier und ich weiß, dass ich das nicht

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