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Über mir der Himmel - Nelson, J: Über mir der Himmel

Über mir der Himmel - Nelson, J: Über mir der Himmel

Titel: Über mir der Himmel - Nelson, J: Über mir der Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jandy Nelson
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Schubladen zu durchwühlen, unters Bett zu gucken, das Notizbuch zu lesen, das aufgeschlagen vor meinen Füßen liegt. Na gut, ich unterdrücke zwei dieser drei Impulse. War heut ein schlechter Tag für Moral. Und eigentlich liest man so ein fremdes Tagebuch ja auch nicht so richtig, wenn es ganz offen daliegt und man runterschaut und seinen eigenen
Namen erkennt, seinen Namen für mich, in einem Satz, der lautet …
    Ich geh in die Knie, und ohne das Heft irgendwie zu berühren, lese ich nur die Stelle um die Initialen JL herum.
    IcH HABE NOcH NIE JEMANDEN GETROFFEN, DER SO AM BODEN ZERSTÖRT IST WIE JL, IcH MÖcHTE ALLES TUN, DAMIT ES IHR BESSER GEHT, MÖcHTE IMMER BEI IHR SEIN, ES IST IRRE, ES KOMMT MIR VOR, ALS OB SIE BIS ZUM ANScHLAG AUFGEDREHT IST, WÄHREND ALLE ANDEREN AUF STUMM GEScHALTET SIND, UND SIE IST EHRLIcH , SO EHRLIcH, KEIN VERGLEIcH ZU GENEVIÈVE , KEIN BISScHEN SO WIE GENEVIÈVE …
    Ich höre seine Schritte auf dem Flur und stehe auf. Das Telefon klingelt schon wieder.
    Er kommt mit zwei Klarinetten an, einer Sopran- und einer Bassklarinette, und hält sie mir hin. Ich nehme die Sopranklarinette, an die ich gewöhnt bin.
    »Was hat das mit dem Telefon auf sich?«, sage ich statt: Wer ist Geneviève ? Statt auf die Knie zu fallen und zu gestehen, dass ich alles andere als ehrlich bin, dass ich wahrscheinlich genauso bin wie Geneviève, wer auch immer sie sein mag, nur ohne das exotisch Französische.
    Er zuckt die Achseln. »Wir kriegen viele Anrufe«, sagt er, dann beginnt sein Stimmritual, bei dem alles auf der Welt, abgesehen von ihm und ein paar Akkorden, verschwindet.
    Wir betreten unerschlossenes Terrain, das Duett von Gitarre und Klarinette ist anfangs noch unbeholfen. Wir stolpern herum, kommen uns ins Gehege, schauen verlegen
hoch, nehmen einen neuen Anlauf. Aber nach einer Weile entsteht eine Verbindung, und wenn der eine nicht weiß, wo der andere hinwill, nehmen wir Blickkontakt auf und lauschen so intensiv, dass es für flüchtige Augenblicke scheint, als würden unsere Seelen miteinander sprechen. Ein Mal, nachdem ich eine Zeit lang allein improvisiert habe, kann er nicht an sich halten: »Dein Ton ist Wahnsinn, so einsam irgendwie, ich weiß auch nicht, wie ein Tag ohne Vögel oder so.« Aber ich fühle mich gar nicht einsam. Bailey hört zu.
     
    »Nun ja, spätabends bist du immer noch nicht anders, sondern immer noch ein und dieselbe John Lennon.« Wir sitzen auf dem Rasen, trinken Wein, den Joe seinem Vater geklaut hat. Die Haustür steht offen und eine Chanteuse schmettert in die warme Nacht hinaus. Wir trinken aus der Flasche und essen Käse und Baguette dazu. Endlich bin ich in Frankreich mit Joe, denke ich, und ich muss lächeln.
    »Was ist?«, fragt er.
    »Weiß nicht. Es ist schön. Ich hab noch nie Wein getrunken.«
    »Ich schon mein Leben lang. Als wir noch klein waren, hat mein Vater ihn für uns mit Wasser verdünnt.«
    »Ehrlich? Betrunkene kleine Fontaine-Jungs sind gegen die Wände gelaufen?«
    Er lacht. »Jap, genau. Das ist meine Erklärung für das gute Benehmen französischer Kinder. Die meiste Zeit haben die ihre petits mignons -Ärschlein voll.« Er setzt die Flasche an, nimmt einen Schluck und reicht sie an mich weiter.

    »Sind deine Eltern beide Franzosen?«
    »Dad ist in Paris geboren und aufgewachsen. Meine Mom ist ursprünglich hier aus der Gegend. Aber Dad macht das wett, er ist der Prototyp eines Franzosen.« In seiner Stimme liegt eine gewisse Bitterkeit, aber der gehe ich nicht nach. Ich hab mich gerade erst von den Folgen meines Herumschnüffelns erholt, Geneviève und die Bedeutung von Ehrlichkeit für Joe sind schon fast vergessen, als er sagt: »Warst du schon mal verliebt?« Er liegt auf dem Rücken und schaut hinauf in einen von Sternen wimmelnden Himmel.
    Ich brülle nicht: Ja, jetzt gerade, in dich, Blödmann , wie ich es plötzlich tun möchte, sondern sage: »Nein, ich war noch nie irgendwas.«
    Er stützt sich auf einen Ellenbogen und guckt zu mir rüber: »Was willst du damit sagen?«
    Die Knie umschlungen sitze ich da und betrachte die Lichtsprenkel unten im Tal.
    »Mir kommt es vor, als hätte ich geschlafen oder so, ich war glücklich, aber ich hab geschlafen, siebzehn Jahre lang und dann ist Bailey gestorben …« Der Wein hat das Reden leichter gemacht, aber keine Ahnung, ob, was ich sage, einen Sinn ergibt. Ich schau zu Joe rüber. Er hört mir zu, als wollte er meine Worte mit den Händen greifen, sobald sie mir über die Lippen

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