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Über mir der Himmel - Nelson, J: Über mir der Himmel

Über mir der Himmel - Nelson, J: Über mir der Himmel

Titel: Über mir der Himmel - Nelson, J: Über mir der Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jandy Nelson
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kommen.
    »Und jetzt?«
    »Also, jetzt weiß ich nicht. Ich fühle mich so anders.« Ich sammele einen kleinen Stein auf und werfe ihn in die Dunkelheit. Ich denke daran, wie die Dinge gewesen sind: berechenbar,
vernünftig. Und genauso war ich auch immer. Ich denke, dass es nichts Unvermeidliches gibt, nie gegeben hat, das hatte ich damals nur nicht gewusst. »Ich bin wach, glaub ich, und vielleicht ist das gut, aber es ist viel komplizierter, denn jetzt bin ich jemand, der weiß, dass jederzeit das Schlimmste passieren kann.«
    Joe nickt, als würde das, was ich sage, einen Sinn ergeben. Das ist gut so, denn ich hab keine Ahnung, was ich gerade gesagt hab. Aber ich weiß, was ich gemeint habe. Ich hab gemeint, ich weiß, wie nah der Tod ist. Wie er lauert. Und wer will das wissen? Wer will denn wissen, dass wir nur einen sorglosen Atemzug vom Ende entfernt sind? Wer will wissen, dass der Mensch, den man am meisten liebt und braucht, einfach so für immer verschwinden kann?
    Er sagt: »Aber wenn du jemand bist, der weiß, dass jederzeit das Schlimmste passieren kann, bist du dann nicht auch jemand, der weiß, dass auch jederzeit das Beste passieren kann?«
    Darüber denke ich nach und bin sofort von freudiger Erregung erfüllt. »Ja, stimmt«, sage ich. »Jetzt gerade mit dir, ehrlich gesagt …« Es ist schon raus, bevor ich es zurückhalten kann – und ich sehe reine Freude wie eine Welle über sein Gesicht schwappen.
    »Sind wir betrunken?«, frage ich.
    Er nimmt noch einen Schluck. »Gut möglich.«
    »Egal, und du, bist du …«
    »So etwas, wie du jetzt durchmachst, habe ich noch nie erlebt.«
    »Nein, ich wollte sagen, bist du je verliebt gewesen?«
Mein Magen krampft sich zusammen. Ich wünsch mir so inständig, dass er Nein sagt, aber ich weiß, das tut er nicht, und er macht es auch nicht.
    »Ja, war ich. Nehm ich an.« Er schüttelt den Kopf. »Glaub ich jedenfalls.«
    »Was ist passiert?«
    In der Ferne ertönt eine Sirene. Joe setzt sich auf. »Während der Sommer war ich im Internat. Ich bin reingeplatzt, als sie mit meinem Zimmerkameraden zusammen war – hat mich fertiggemacht. Ich meine, so richtig fertiggemacht. Ich hab nie wieder ein Wort mit ihr geredet oder mit ihm, hab mich wie wahnsinnig in die Musik gestürzt, den Mädchen abgeschworen, na ja, bis jetzt, glaub ich …« Er lächelt, aber nicht so wie sonst. Eine Verletzlichkeit liegt in seinem Lächeln, eine Zögerlichkeit, die ist überall in seinem Gesicht, auch in seinen wunderschönen grünen Augen. Ich mach meine Augen zu, damit ich sie nicht sehen muss, denn ich kann nur noch daran denken, dass er heute auch beinahe bei Toby und mir hereingeplatzt wäre.
    Joe schnappt sich die Weinflasche und trinkt. »Und die Moral von der Geschicht: Geigerinnen sind verrückt. Ich glaub, das liegt an diesem verdammten Bogen.« Geneviève, die hinreißende französische Geigerin. Argh.
    »Ach ja? Und wie ist das mit Klarinettistinnen?«
    Er lächelt. »Die sind am empfindsamsten.«
    Mit dem Finger fährt er über mein Gesicht, die Stirn, Wange, dann am Hals entlang. »… und so schön.« Oje, ich kapier total, warum König Edward VIII. von England aus Liebe auf den Thron verzichtet hat. Wenn ich einen Thron
hätte, würde ich auch abdanken, nur um die letzten drei Sekunden noch einmal zu erleben.
    »Und Hornisten?«, frage ich und verflechte meine Finger mit seinen.
    Er schüttelt den Kopf. »Wahnsinnige Teufelsbraten, halt dich fern von denen. Alles-oder-nichts-Typen, die Mitte kennen diese Angeber nicht.« Oha.
    »Verärgere niemals einen Hornisten«, ergänzt er flapsig, doch das Flapsige höre ich nicht. Ich kann nicht fassen, dass ich ihn heute angelogen habe. Ich muss auf Abstand zu Toby gehen. Meilenweit.
    In der Ferne heult ein Kojotenpaar, mir läuft ein Schauer über den Rücken. Gutes Timing, ihr Köter.
    »Hab gar nicht gewusst, dass Hornisten so furchterregend sind«, sage ich, lasse seine Hand los und nehme einen Schluck aus der Flasche. »Und Gitarristen?«
    »Sag du’s mir.«
    »Hm, da muss ich nachdenken …« Dieses Mal fahre ich mit dem Finger über sein Gesicht. »Unscheinbar und langweilig und selbstverständlich völlig untalentiert -« Er fängt an zu kichern. »Ich bin noch nicht fertig. Aber all das machen sie wett, weil sie so leidenschaftlich sind -«
    »O Gott«, flüstert er, zieht mich an sich und unsere Lippen nähern sich. »Dieses Mal lassen wir die ganze Scheißwelt explodieren.«
    Und das tun wir.

19. Kapitel
    ICH

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