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Über mir der Himmel - Nelson, J: Über mir der Himmel

Über mir der Himmel - Nelson, J: Über mir der Himmel

Titel: Über mir der Himmel - Nelson, J: Über mir der Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jandy Nelson
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LIEGE IM BETT und höre Stimmen.
    »Was meinst du fehlt ihr?«
    »Weiß nicht recht. Könnte sein, dass … vielleicht hat das Orange der Wände sie erwischt.« Pause. Dann höre ich. »Lass uns die Sache logisch angehen. Symptome: mittags noch im Bett an einem sonnigen Samstag, entrücktes Grinsen im Gesicht, verfärbte Lippen, vermutlich Rotwein, ein Getränk, das ihr zu genießen nicht gestattet ist, was wir später noch ansprechen werden, und ein eindeutiger Hinweis: Sie steckt immer noch in ihren Kleidern, einem Kleid mit – wie ich hinzufügen darf -, mit Blumen drauf.«
    »Nun, nach meiner Einschätzung als Experte, und ich kann mich auf einen reichen Erfahrungsschatz und fünf glorreiche, wenn auch gescheiterte Ehen berufen, ist Lennie Walker alias John Lennon von Sinnen vor Liebe.«
    Big und Grama lächeln auf mich herab. Ich komme mir vor wie Dorothy, die in ihrem Bett aufwacht, inmitten ihres Kansas, nachdem sie auf der anderen Seite vom Regenbogen gewesen ist.

    »Wirst du je wieder aufstehen, was meinst du?« Grama sitzt jetzt auf dem Bett und tätschelt meine Hand, die in ihrer liegt.
    »Weiß nicht.« Ich dreh mich um, damit ich sie ansehen kann. »Ich möchte ewig hier liegen bleiben und an ihn denken.«
    Ich hab noch nicht entschieden, was besser ist: die letzte Nacht zu erleben oder die selige Wiederholung in meinem Kopf, wo ich auf Pause schalten und ekstatische Sekunden zu ganzen Stunden verlängern kann, wo sich gewisse Augenblicke zur Schlaufe schalten lassen, bis ich den süßen, grasartigen Geschmack von Joe wieder im Mund spüre und der Nelkenduft seiner Haut in der Luft liegt, bis seine Hände mir wieder durch die Haare fahren, über mein Kleid streichen … nur eine dünne, dünne Stoffschicht ist zwischen uns, bis zu dem Moment, in dem seine Hände unter den Stoff geglitten sind und ich seine Finger auf der Haut gefühlt habe wie Musik – all das stürzt mich wieder und wieder von der Klippe, die mein Herz ist.
    An diesem Morgen galt mein erster Gedanke nach dem Aufwachen zum ersten Mal nicht Bailey, und deshalb hatte ich mich schuldig gefühlt. Aber die Schuld hatte keine Chance gehabt gegen die dämmernde Erkenntnis, dass ich im Begriff war, mich zu verlieben. Ich hatte zum Fenster hinaus in den frühen Morgennebel gestarrt und einen Augenblick lang überlegt, ob sie mir Joe wohl geschickt hatte, weil ich wissen sollte, dass in derselben Welt, in der sie sterben konnte, so etwas möglich war.
    Big sagt: »Nun schau sie dir an. Wir müssen diese verdammten
Rosensträucher zurückstutzen.« Sein Haar ist heute besonders kraus und widerspenstig, sein Schnurrbart ungewachst, sodass man denken könnte, ein Eichhörnchen husche ihm übers Gesicht. In jedem Märchen spielt Big den König.
    Grama schimpft mit ihm. »Nun aber still, du glaubst ja nicht mal dran.« Sie mag es nicht, wenn das Gerücht über die aphrodisiakische Wirkung ihrer Rosen genährt wird, denn es gab Zeiten, in denen verzweifelte Liebende kamen und sie stahlen, um die Herzen ihrer Geliebten zurückzugewinnen. Das hat sie verrückt gemacht. Nichts nimmt Grama so ernst wie einen ordentlichen Rückschnitt.
    Big will aber nicht lockerlassen. »Probieren geht über Studieren, an diese Methode halte ich mich: Den lebenden Beweis hat man in diesem Bett vor sich. Sie ist schlimmer als ich.«
    »Keiner ist schlimmer als du, du bist der Schwarm der Stadt.«
    »Du sagst zwar Schwarm, meinst aber Schwein«, erwidert Big und zwirbelt das Eichhörnchen zwecks Eindruckschindung.
    Ich setze mich im Bett auf und lehne mich gegen das Fensterbrett, damit ich ihr verbales Tennismatch auch richtig genießen kann. Durchs Fenster spüre ich den sommerlichen Tag, der mir herrlich den Rücken wärmt. Aber als ich zu Baileys Bett hinüberschaue, komme ich gleich wieder runter. Wie kann mir etwas von solcher Tragweite geschehen – ohne sie? Und was ist mit all den Dingen von großer Tragweite, die noch folgen werden? Wie werde ich durch
alle und jedes hindurchgehen – ohne sie? Mir ist es ganz egal, dass sie mir Sachen verheimlicht hat, ich will ihr absolut alles von gestern Nacht erzählen, alles, was mir je geschehen wird! Ehe es mir klar ist, weine ich schon, aber ich will uns nicht alle mit runterziehen, deshalb schlucke ich und schlucke alles runter und versuche mich auf letzte Nacht zu konzentrieren, auf das Verlieben. Auf der anderen Seite des Zimmers entdecke ich meine Klarinette, halb verdeckt von Baileys Paisleyschal, den ich seit Kurzem

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