Über mir der Himmel - Nelson, J: Über mir der Himmel
Ich ziehe einen Karton heran und beschließe, mir ein oder zwei Schubladen vorzunehmen. Den Anblick der leeren Kisten hasse ich fast noch mehr als die Vorstellung, ihre Sachen einzupacken.
Die unterste Schublade ist voller Schulhefte, Hausaufgaben von Jahren, alle nutzlos jetzt. Ich nehme eins heraus, meine Finger gleiten über den Umschlag, ich drücke es an meine Brust und dann lege ich es in den Karton. All ihr Wissen ist jetzt verschwunden. Alles, was sie je gelernt, gehört oder gesehen hat. Ihre spezielle Art, Hamlet zu betrachten oder Gänseblümchen, ihre Gedanken über die Liebe, all ihre ureigenen komplizierten Gedanken, ihre belanglosen geheimen Träumereien – auch alle weg. Diese Redewendung hab
ich mal gehört: Jedes Mal wenn jemand stirbt, brennt eine Bibliothek ab. Ich beobachte, wie sie bis auf die Grundmauern niederbrennt.
Die restlichen Schulhefte stapele ich auf das erste, mach die Schublade zu, und mit der darüber verfahre ich genauso. Den Karton verschließe ich und fange einen neuen an. In der nächsten Schublade sind noch mehr Hefte, einige sind Tagebücher, die ich nicht lesen werde. Ich blättere den Stapel durch und lege ein Heft nach dem anderen in den Karton. Auf dem Boden der Schublade liegt eines aufgeschlagen da. Baileys krakelige Schrift von oben bis unten, Kolonnen von Wörtern bedecken die ganze Seite, die meisten sind durchgestrichen. Ich nehme das Heft heraus, ein Schuldgefühl packt mich, aber das wandelt sich zu Überraschung und dann zu Angst, als ich erkenne, was das für Wörter sind.
Es sind alles Kombinationen des Namens unserer Mutter mit anderen Namen und Dingen. Ein ganzer Abschnitt besteht nur aus dem Namen Paige in Verbindung mit Leuten und Sachen, die mit John Lennon zu tun haben, meinem Namensvetter und – wie wir deswegen angenommen haben – ihrem Lieblingsmusiker. Wir wissen praktisch nichts über Mom. Als sie weggegangen ist, scheint sie alle Spuren ihres Lebens mitgenommen und nichts weiter als eine Geschichte zurückgelassen zu haben. Grama redet selten über etwas anderes als ihre erstaunliche Wanderlust und Big ist nicht viel besser.
»Mit fünf Jahren«, hat Grama uns immer wieder erzählt und die Finger hochgehalten, um das zu unterstreichen, »hat eure Mutter sich eines Nachts aus dem Bett weggestohlen, und ich hab sie dann mit ihrem kleinen blauen
Rucksack und einem Wanderstock auf halbem Weg in die Stadt aufgelesen. Sie sei auf Abenteuer, hat sie gesagt – mit fünf Jahren, Mädels!«
Das war also alles, was wir hatten, abgesehen von einer Kiste mit Siebensachen, die wir im Allerheiligsten aufbewahrten. Sie ist voller Bücher, die wir im Laufe der Jahre von den Regalen unten gehamstert haben, Bücher, in denen ihr Name steht : Oliver Twist. Unterwegs. Siddhartha , Gedichte von William Blake und ein paar Heftromane, die Buchsnobs wie uns total aus dem Konzept gebracht haben. Keins der Bücher hat Eselsohren oder ist mit Anmerkungen vershen. Wir haben ein paar Jahrbücher, aber in denen gibt es keine Kritzeleien von Freunden. Ein Exemplar von The Joy of Cooking ist darunter, das überall bekleckert ist. (Grama hat uns mal erzählt, dass Mom in der Küche zaubern konnte und dass sie vermutet, Mom verdiente sich ihren Lebensunterhalt unterwegs mit Kochen.)
Aber hauptsächlich haben wir Landkarten, haufenweise Landkarten: Straßenkarten, Messtischblätter, Karten von Clover, von Kalifornien, von den neunundvierzig anderen Bundesstaaten, von allen möglichen Ländern, allen möglichen Kontinenten. Mehrere Atlanten sind auch dabei, jeder davon sieht so gründlich gelesen und immer wieder gelesen aus wie meine Ausgabe von Sturmhöhe . Die Karten und Atlanten offenbaren mehr von ihr als alles andere. Die Welt hat dieses Mädchen gelockt. Als wir noch klein waren, haben Bailey und ich zahllose Stunden über den Atlanten verbracht und uns Reiserouten und Abenteuer für sie ausgedacht.
Ich fange an, das Heft durchzublättern. Seiten über Seiten
von diesen Kombinationen: Paige/Lennon/Walker, Paige/ Lennon/Yoko, Paige/Lennon/Imagine, Paige/Dakota/Ono und immer so weiter. Manchmal hat sie sich Notizen unter einer Namenskombination gemacht. Zum Beispiel hat sie unter die Wörter Paige/Dakota eine Adresse in North Hampton MA gekritzelt. Aber die ist dann ausgestrichen worden und die Anmerkung zu jung ist dazu gekrakelt worden.
Ich bin schockiert. Wir haben beide den Namen unserer Mutter in Suchmaschinen eingegeben, ohne Erfolg, und manchmal haben wir
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