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Über mir der Himmel - Nelson, J: Über mir der Himmel

Über mir der Himmel - Nelson, J: Über mir der Himmel

Titel: Über mir der Himmel - Nelson, J: Über mir der Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jandy Nelson
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Kleidern. Ich drehe den Kopf, damit ich ihn ansehen kann. »Die Melodie, die du geschrieben hast, ist ja so schön. Ich will sie dir vorspielen.« Ehe das letzte Wort über meine Lippen ist, küsst er mich. Ich drehe mich in seinen Armen, bis wir uns gegenüberstehen, dann werfe ich ihm die Arme um den Hals, während er mich an sich zieht. O Gott, es ist mir egal, ob ich jede Regel in der westlichen Welt breche, mir ist ja alles so scheißegal, denn unsere Münder, die für einen Augenblick getrennt waren, finden sich wieder und außer dieser ekstatischen Tatsache verliert alles andere an Bedeutung.
    Wie können Leute funktionieren, wenn sie so fühlen?
    Wie können sie sich die Schuhe zubinden?
    Oder Auto fahren?
    Oder schwere Maschinen führen?
    Wie bewegt sich die Zivilisation fort, während das hier passiert?
    Töne, etwa zehn Dezibel unter ihrer normalen Lautstärke, stottern aus Onkel Big heraus. »Äh, Kids. Vielleicht solltet ihr, weiß auch nicht, hmmm …« In mir kommt alles quietschend zum Stillstand. Hat Big eben gestottert? Äh, Lennie? Wahrscheinlich ist es nicht besonders cool, mitten in der Küche vor Oma und Onkel herumzumachen. Ich löse mich von Joe; das ist wie einem Strudel zu entrinnen. Dann schaue ich Grama und Big an, die unruhig und betreten dastehen, während die Würstchen anbrennen. Sollten wir es geschafft haben, ein Gefühl der Peinlichkeit im König und der Königin der Abgedrehtheit zu erwecken?

    Ich schaue wieder zu Joe. Der sieht aus wie eine Figur aus einem Comic, die gerade was mit der Keule auf den Kopf gekriegt hat. Die ganze Szene kommt mir irre komisch vor und ich falle lachend auf einen Stuhl.
    Joe schenkt Grama und Big ein peinlich berührtes kleines Lächeln und lehnt sich gegen den Küchentresen, seinen Trompetenkasten hält er jetzt in strategisch günstiger Position vor dem Unterleib. Gott sei Dank hab ich keinen von denen. Wer will schon mitten am Körper so ein Lustometer rausragen haben?
    »Du gehst doch zur Probe, oder?«, fragt er.
    Plink. Plink. Plink.
    Ja, vorausgesetzt wir kommen so weit.
     
    Wir kommen so weit, in meinem Fall jedoch nur körperlich. Ich staune, dass meine Finger die Klappen finden, während ich durch die Stücke gleite, die Mr James für das bevorstehende River-Festival ausgewählt hat. Rachel schickt mir Mörderblicke und dreht den Notenständer mehrmals so, dass ich nichts sehen kann, und trotzdem verliere ich mich in der Musik, trotzdem kommt es mir vor, als würde ich mit Joe allein spielen, ich improvisiere und genieße es, nicht zu wissen, wo mich der nächste Ton hinführen wird … aber mitten in der Probe, mitten im Stück, mitten im Ton erfasst mich ein Gefühl des Grauens, als ich daran denke, wie Toby gestern Abend geguckt hat, bevor er gegangen ist. Und was er im Allerheiligsten gesagt hat. Er muss wissen, dass wir uns jetzt voneinander fernhalten müssen. Das muss er wissen. Ich drücke das panische Gefühl
weg, bin aber für den Rest der Probe unangenehm wachsam und folge dem Arrangement ohne die geringste Abweichung.
    Nach der Probe haben Joe und ich den ganzen Nachmittag für uns, denn er ist raus aus dem Gefängnis und ich muss nicht arbeiten. Wir gehen zurück zu mir nach Hause, der Wind treibt uns voran wie Laub.
    »Ich weiß, was wir machen sollten«, sage ich.
    »Wolltest du mir nicht das Lied vorspielen?«
    »Doch, aber ich möchte es dir woanders vorspielen. Weißt du noch, neulich Abend hab ich dich rausgefordert, an einem echt windigen Tag mit mir in den Wald zu gehen? Und heute haben wir so einen Tag.«
    Wir biegen von der Straße ab und wandern los, kämpfen uns durchs Unterholz vor, bis wir den Pfad finden, den ich gesucht habe. Die Sonne bricht hier und da durchs Blätterdach und wirft ein schwaches Licht auf den Waldboden. Wegen des Windes knarren die Bäume sinfonisch – eine Philharmonie der quietschenden Türen. Perfekt.
    Nach einer Weile sagt er: »Ich finde, ich halte mich ausgesprochen gut, angesichts der Umstände, meinst du nicht?«
    »Angesichts welcher Umstände?«
    »Dass wir zum Soundtrack des gruseligsten Horrorfilms wandern, der je gedreht wurde, und sich über uns sämtliche Baumtrolle der Welt zusammengefunden haben und ihre Haustüren schlagen lassen.«
    »Es ist helllichter Tag, du hast doch wohl keine Angst.«
    »Doch, ehrlich gesagt, aber ich versuch, kein Weichei zu sein. Ich hab nun mal eine sehr niedrige Gruselschwelle.«

    »Du wirst es wunderbar finden, wo ich dich hinführe,

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