Über mir der Himmel - Nelson, J: Über mir der Himmel
noch lebte. Aber ist es das? Es fühlt sich nicht so an. Wenn ich ihre Kleider
trage, fühle ich mich einfach sicherer, so, als würde sie mir ins Ohr flüstern.
Ich bin tief in Gedanken, deshalb erschrecke ich, als Toby mit uncharakteristisch wackliger Stimme sagt: »Len, es tut mir leid. Alles.« Ich schaue ihn an. Er wirkt so verletzlich, so ängstlich. »Hab mich nicht mehr im Griff gehabt, fühl mich echt mies.« War es das, was er mir unbedingt mitteilen musste? Erleichterung poltert mir von der Brust.
»Ich auch«, sage ich und taue sofort auf. Wir stecken da beide drin.
»Ich noch mehr, kannst mir glauben«, sagt er und reibt sich wieder die Schenkel. Er ist so verstört. Glaubt er etwa, das ist alles nur seine Schuld oder so?
»Wir waren das beide, Toby«, sage ich. »Jedes Mal. Wir sind beide schrecklich.«
Er schaut mich an, seine dunklen Augen sind so warm. »Du bist nicht schrecklich, Lennie.« Seine Stimme ist sanft, vertraulich. Ich merke, dass er die Arme nach mir ausstrecken will. Ich bin froh, dass er auf der anderen Seite des Zimmers ist. Wenn er doch auf der anderen Seite des Äquators wäre. Denken unsere Körper jetzt etwa, sie dürften sich bei jeder Gelegenheit berühren? Meinem sag ich, dass so was ganz und gar nicht infrage kommt, und egal, dass ich es wieder fühle. Ganz egal.
Und dann durchbricht ein abtrünniger Asteroid den Schutzschild der Erde und schießt ins Allerheiligste: »Aber ich kann einfach nicht aufhören, an dich zu denken«, sagt er. »Geht nicht. Ich muss …« Er zerknüllt Baileys Tagesdecke zwischen den Fäusten. »Ich will -«
»Bitte, kein Wort mehr.« Ich gehe rüber zu meiner Kommode, ziehe die mittlere Schublade auf und hole ein Hemd heraus, mein Hemd. Baileys muss ich ausziehen. Denn plötzlich kommt mir der Gedanke, dass diese imaginäre Seelenklempnerin den Nagel auf den Kopf getroffen hat.
»Ich bin das nicht«, sage ich leise. Ich mach den Wandschrank auf und schlüpfe hinein. »Ich bin nicht sie.«
Ich bleibe in der ruhigen Dunkelheit, bis ich meine Atmung unter Kontrolle habe, bis ich mein Leben unter Kontrolle habe, bis ich mein eigenes Hemd am eigenen Körper trage. Unter meinen Füßen scheint ein reißender Fluss zu sein, der mich auf Toby zu trudeln lässt, immer noch, trotz allem, was mit Joe passiert ist, ein tosender, leidenschaftlicher, verzweifelter Fluss, aber dieses Mal will ich nicht hineinsteigen. Ich will am Ufer bleiben. Wir können doch nicht immer weiter unsere Arme um einen Geist schlingen.
Als ich aus dem Wandschrank komme, ist er weg.
»Tut mir furchtbar leid«, sage ich laut zu dem leeren orangefarbenen Zimmer.
Wie eine Antwort darauf fangen tausend Finger an, aufs Dach zu trommeln. Ich gehe zu meinem Bett, klettere aufs Fensterbrett und strecke die Hände raus. Da es bei uns nur zwei Gewitter pro Sommer gibt, ist Regen ein Ereignis. Ich lehne mich weit über das Fensterbrett hinaus, halte dem Himmel die Handflächen entgegen und lasse ihn durch die Finger tropfen, dabei erinnere ich mich an das, was Big an jenem Nachmittag zu Toby und mir gesagt hat. Wir kommen nicht drum rum, wir müssen da durch . Wer wusste denn, was durch sein würde?
Im Regenguss rennt jemand die Straße hinunter. Als die Gestalt sich dem beleuchteten Garten nähert, erkenne ich Joe, und das hebt meine Stimmung sofort. Mein Rettungsfloß.
»He!«, brülle ich und winke wie besessen.
Er schaut zum Fenster hoch, lächelt und ich kann gar nicht schnell genug die Treppen runter zur Haustür und hinaus zu ihm in den Regen.
»Du hast mir gefehlt«, sage ich und berühre seine Wange mit den Fingern. Regen tropft von seinen Wimpern und strömt in Bächen über sein Gesicht.
»Gott, du mir auch.« Dann sind seine Hände auf meinen Wangen und wir küssen uns und der Regen schüttet auf unsere verrückten Köpfe herunter und wieder steht mein ganzes Wesen vor lauter Freude lichterloh in Flammen.
Ich hatte nicht gewusst, dass Liebe sich anfühlt, als würde alles ganz hell werden.
»Was machst du?«, sage ich, als ich mich endlich überwinde, mich einen Augenblick von ihm loszureißen.
»Ich hab gesehen, dass es regnet – und hab mich rausgeschlichen, weil ich dich sehen wollte, einfach so.«
»Warum musstest du dich rausschleichen?« Der Regen hat uns durchweicht, mein Hemd klebt mir auf der Haut, und Joes Hände streichen mir über die Seiten.
»Ich bin im Gefängnis«, sagt er. »Bin so was von erwischt worden, der Wein, den wir getrunken haben,
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