Über mir der Himmel - Nelson, J: Über mir der Himmel
worden ist.
Mit jedem Tag, der vergeht, verschwinden mehr Spuren
meiner Schwester, nicht allein aus der Welt, sondern auch aus meinem Kopf und ich kann nichts dagegen machen, nur im geräuschlosen, geruchlosen Allerheiligsten sitzen und weinen.
Am sechsten dieser Tage erklärt Sarah mich zum Notfall und ringt mir das Versprechen ab, mit ihr abends ins Kino zu gehen.
Sie holt mich mit Ennui ab, in einem schwarzen Minirock, einem noch minieren Tanktop, das eine Menge gebräunte Taille preisgibt, und turmhohen schwarzen Pumps, das alles gekrönt von einer schwarzen Skimütze. Die ist ihr Versuch praktisch zu sein, denn ein kalter Wind ist aufgekommen und es ist eisig. Ich trage einen braunen Wildledermantel, Rollkragenpullover und Jeans. Man könnte meinen, wir stammten aus zwei verschiedenen Wetterzonen.
»Hi!«, sagt sie, nimmt die Zigarette aus dem Mund, um mich zu küssen, als ich einsteige. »Dieser Film soll richtig gut sein. Nicht wie der letzte, in den ich dich geschleift habe, bei dem während der ganzen ersten Hälfte diese Frau mit der Katze in einem Sessel gesessen hat. Ich geb zu, das war problematisch.«
Sarah und ich haben entgegengesetzte Kinogängerphilosophien. Alles, was ich mir von einem Streifen Zelluloid erhoffe, ist, mit einem riesigen Eimer Popcorn im Dunkeln sitzen zu können. Gebt mir Verfolgungsjagden, wahre Liebe mit Hindernissen, Underdogs, die es schaffen, lasst mich in Ohnmacht sinken, kreischen und weinen. Sarah dagegen erträgt solche gewöhnliche Kost nicht und klagt pausenlos darüber, wie unser Intellekt verkommt und wir bald nicht mehr in der Lage sein werden, einen eigenständigen Gedanken
zu denken, weil wir unsere Hirne an das herrschende Paradigma verlieren werden. Sarah hat eine Vorliebe für The Guild , wo trostlose ausländische Filme gezeigt werden, in denen nichts passiert, niemand spricht und alle jemanden lieben, der sie nicht wiederliebt, und dann ist der Film zu Ende. Heute Abend steht ein unerträglich langweiliger Schwarz-Weiß-Film aus Norwegen auf dem Programm.
Ihr Gesicht wird ganz lang, als sie mich mustert. »Du siehst unglücklich aus.«
»War eine rundum beschissene Woche.«
»Das wird bestimmt gut heute Abend, ehrlich.« Sie nimmt eine Hand vom Steuer und holt eine braune Tüte aus dem Rucksack. »Für den Film.« Sie reicht sie mir. »Wodka.«
»Hmm, da schlafe ich bestimmt ein in diesem total spannungsgeladenen Actionthriller von einem norwegischen Stummfilm.«
Sie verdreht die Augen. »Das ist kein Stummfilm, Lennie.«
Während wir in der Schlange stehen, hopst Sarah herum, weil sie sich warm halten will. Sie erzählt mir, wie erstaunlich gut Luke sich bei dem Symposium gehalten hat, obwohl er da der einzige Typ war, und dass er sie sogar dazu angehalten hat, eine Frage über Musik zu stellen, aber dann mitten im Satz und mitten im Hopser bekommt sie ganz große Augen. Das krieg ich mit, obwohl sie schon weiterredet, als wäre nichts passiert. Ich dreh mich um und auf der anderen Straßenseite steht Joe mit Rachel.
Sie sind so ins Gespräch vertieft, dass sie gar nicht merken, dass die Ampel umgesprungen ist.
Geh über die Straße , will ich schreien. Geh rüber, ehe du
dich verliebst . Denn das scheint da gerade zu passieren. Ich beobachte, wie Joe sie am Ärmel zupft, während er ihr irgendwas erzählt, sicherlich was von Paris. Ich sehe das Lächeln, all das Strahlen, das sich über Rachel ergießt, und denke, ich falle um wie ein abgesägter Baum.
»Komm, wir gehen.«
»Ja.« Sarah geht schon zum Auto und fummelt in ihrer Tasche nach den Schlüsseln. Ich folge ihr, gucke mich aber ein Mal um und schaue Joe direkt in die Augen. Sarah verschwindet. Dann Rachel. Dann alle Leute in der Schlange. Dann die Autos und die Bäume, die Häuser, der Boden und der Himmel, bis es nur noch Joe und mich gibt, die sich über den leeren Raum hinweg anstarren. Er lächelt nicht. Das ist das Gegenteil von einem Lächeln. Aber ich kann nicht weggucken und er scheint das auch nicht zu können. Die Zeit hat sich so sehr verlangsamt, dass ich mich schon frage, ob wir alt sein werden und unser ganzes Leben nach ein paar mickrigen Küssen vorüber sein wird, wenn wir endlich damit fertig sind, uns anzustarren. Mir ist ganz schwindlig vor Sehnsucht nach ihm, schwindlig, ihn zu sehen, schwindlig, nur wenige Meter von ihm entfernt zu stehen. Ich will über die Straße rennen, will gerade loslaufen, mein Herz schlägt hoch, stößt mich auf ihn zu, aber dann
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