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Über mir der Himmel - Nelson, J: Über mir der Himmel

Über mir der Himmel - Nelson, J: Über mir der Himmel

Titel: Über mir der Himmel - Nelson, J: Über mir der Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jandy Nelson
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mit Walnüssen gemacht hat? Warum hat sie uns diese Mutter aus dem wirklichen Leben vorenthalten? Aber schon als ich diese Frage stelle, kenne ich die Antwort, weil ich plötzlich kein Blut mehr in den Adern habe, das durch meinen Körper gepumpt wird, sondern Sehnsucht nach einer Mutter, die Lilien liebt. Eine Sehnsucht, die ich nach der Paige Walker, die die Welt durchwandert, nie gehabt habe. Bei jener Paige Walker hatte ich nie das Gefühl, eine Tochter zu sein, bei einer Mutter, die Nudelwasser kocht, schon. Doch muss man nicht als Tochter eingefordert werden? Muss man nicht geliebt werden?
    Und jetzt überkommt mich etwas Schlimmeres als Sehnsucht, denn wie kann eine Mutter, die Nudelwasser kocht, zwei kleine Mädchen zurücklassen?
    Wie konnte sie das tun?
    Ich mache den Deckel zu, stelle den Kasten wieder auf ein Bord und stapele Baileys Kisten schnell am Fenster auf, dann klettere ich die Treppen hinunter in das leere Haus.

30. Kapitel

    (Gefunden auf einem Pappbecher bei einer Gruppe Mammutbäume)
    DIE NÄCHSTEN TAGE kriechen elendiglich dahin. Ich lasse die Orchesterprobe ausfallen und ziehe mich ins Allerheiligste zurück. Joe Fontaine kommt nicht vorbei, ruft nicht an, simst nicht, schreibt keine Botschaften in den Himmel,
morst nicht und kommuniziert auch nicht telepathisch mit mir. Nichts. Ich bin mir ganz sicher, dass er und Hallo Rachel nach Paris gezogen sind, wo sie von Schokolade, Musik und Rotwein leben, während ich an diesem Fenster sitze und auf die Straße hinunterschaue, auf der niemand mit der Gitarre in der Hand angesprungen kommt wie früher.
    Im Laufe der Tage hat Paige Walkers Liebe zu Lilien und ihre Fähigkeit, Wasser zu kochen, die eigenartige Wirkung entfaltet, sechzehn Jahre Mythos einfach von ihr runterzuspülen. Und ohne den bleibt nur dies übrig: Unsere Mutter hat uns verlassen. Anders kann man es nicht sehen. Und was für eine Art Mensch tut so etwas? Rip van Lennie hat recht. Ich habe in einer Traumwelt gelebt, Grama hat mir eine Gehirnwäsche verpasst. Meine Mutter ist total durchgeknallt und ich auch, denn welcher Dummkopf schluckt schon so eine bekloppte Geschichte? Alle diese hypothetischen Familien, von denen Big neulich Nacht geredet hat, hätten völlig recht damit, die Sache nicht freundlich zu betrachten. Meine Mutter ist pflichtvergessen und unverantwortlich und höchstwahrscheinlich auch geistig nicht ganz auf der Höhe. Sie ist überhaupt keine Heldin. Sie ist einfach nur eine egoistische Frau, die es nicht gepackt hat, die zwei Kleinkinder auf der Veranda ihrer Mutter sitzen gelassen hat und nie wieder zurückgekommen ist . So ist sie. Und wir sind auch nicht mehr als das: zwei abgelegte Kinder, die einfach hier zurückgelassen worden sind. Bin ich froh, dass Bailey das nie so sehen musste.
    Ich steig nicht wieder hoch auf den Dachboden.
    Es geht schon. Ich bin an eine Mutter gewöhnt, die auf einem fliegenden Teppich herumreist. Da werde ich mich
wohl auch an diese Mutter gewöhnen können, oder? Aber ich kann mich nicht daran gewöhnen, dass ich an Joes Vergebung nicht mehr glauben kann, obwohl ich ihn doch jeden Tag mehr liebe. Wie gewöhnt man sich daran, von niemandem mehr John Lennon genannt zu werden? Oder dass keiner einen glauben macht, der Himmel beginne bei deinen Füßen? Oder sich benimmt wie ein Trottel, nur damit man sagt quel Trottel? Wie gewöhnt man sich daran, ohne einen Jungen zu sein, der einen erstrahlen lässt?
    Ich kann das nicht.
    Und was noch schlimmer ist, mit jedem Tag, der vergeht, wird das Allerheiligste stiller, sogar wenn ich die Anlage voll aufdrehe, sogar wenn ich mit Sarah rede, die sich noch immer für das Verführungsfiasko entschuldigt, sogar wenn ich Strawinsky übe, wird es stiller und stiller, bis es so still ist, dass ich immer wieder dieses Knarren höre, mit dem sich der Sarg in die Erde senkt.
    Mit jedem Tag, der vergeht, werden die Abschnitte länger, in denen ich nicht mehr glaube, Baileys Absätze den Flur entlangklackern zu hören, oder meine, sie lesend auf dem Bett liegen oder am Rande meines Blickfeldes vor dem Spiegel ihre Zeilen rezitieren zu sehen. Ich gewöhne mich an ein Allerheiligstes ohne sie und ich hasse es. Hasse es, dass ich in ihrer Kleiderkammer stehen und meine Nase in ein Kleidungsstück nach dem anderen drücken kann, ohne eine Bluse oder ein Kleid zu finden, das noch ihren Duft trägt, und das ist meine Schuld. Alles riecht jetzt nach mir.
    Ich hasse es, dass ihr Handy schließlich abgestellt

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