Über Stock und Runenstein
‘ne
Ewigkeit nich’ mehr dagewesen.«
»Und über die Straße wäre der
Runenstein leichter zu erreichen?«
»Kinderleicht. War mal ‘n Wendeplatz
da, un’ man konnte direkt bis zum Stein durchfahren.«
»Wir könnten versuchen, mit dem Traktor
Ihres Neffen durchzukommen.«
»Aufm Traktor macht’s aber keinen
Spaß.«
Miss Hildas Einwand war unwiderlegbar.
Sie machten einen Kompromiß: Shandy sollte mit dem Traktor vorausfahren, um den
Weg, den Swope freigeschlagen hatte, etwas zu verbreitern, während Thorkjeld
hinterherging, um Onkel Sven unter dem einen und Miss Hilda unter dem anderen
Arm zu tragen, wenn der Weg für ihre 100jährigen Beine zu mühsam sein sollte.
Es war eigentlich nicht sehr weit,
weniger als eine halbe Meile vom Haus entfernt, doch der Großteil des Weges war
mit Dornengestrüpp überwachsen, und Cronkite Swope bekam auf Shandys Liste der
verkannten Helden einen immer besseren Platz. Cronkite hatte es sogar
geschafft, vor dem Stein selbst einen kleinen Freiraum zu schaffen. Onkel Sven
hatte genug Platz, mit Hilfe von Thorkjelds Lieblingslupe die Inschrift zu
untersuchen.
Der Stein selbst war nichts Besonderes,
soweit Shandy feststellen konnte, lediglich ein Granitblock, der unten etwa
vier Fuß hoch und zwei Fuß breit war, ähnlich wie die zahlreichen anderen
Steinblöcke, die vom Großen Gletscher so großzügig über diese Gegend verteilt
worden waren, zum maßlosen Ärger der ersten Siedler, die mühsam die Steine von
den Feldern wälzen mußten, die sie gerodet und abgebrannt hatten, um sie in
fruchtbares Farmland zu verwandeln. Zahlreiche Steine wie dieser hier waren zum
Bau von Steinwällen benutzt worden, um die Wildschweine fernzuhalten und um die
britischen Rotröcke aus dem Hinterhalt erschießen zu können.
Von den Runen hielt Shandy ebenfalls
nicht sonderlich viel. Für ihn bedeuteten sie lediglich undeutliche Rillen im
Granit. Onkel Sven jedoch war so versunken in seine Studien, daß er völlig
vergaß, Miss Hilda weiter mit seinem festen Griff zu erfreuen, woraufhin diese
sich schmollend zurückzog und auf dem Traktor niederließ. Außerdem verlor er
nun völlig seine ohnehin schon schwache Kontrolle über die Fremdsprache, so daß
Thorkjeld als Übersetzer fungieren mußte, wenn er irgend etwas sagte.
»Was steht denn jetz’ nun drauf?«
wollte Miss Hilda wissen, höchst ärgerlich darüber, daß man sie wegen eines
primitiven Granitblocks so schnöde im Stich ließ.
»Gebt ihm doch Zeit«, schnaubte
Professor Svenson. »Die Inschrift ist in keinem besonders guten Zustand.«
»Hm. Is’ er ja selbs’ auch nich’!«
Eine boshafte Bemerkung, aber Thorkjeld
machte sich nicht erst die Mühe, den Satz für seinen Onkel zu übersetzen, denn
er war ein großer Frauenkenner und wußte, daß Miss Hilda es nicht ernst meinte.
Sven Svenson sah sich den Stein genauer
an, murmelte leise vor sich hin und fuhr immer wieder vorsichtig mit geübten
Fingern darüber, um auch die Spuren festzustellen, die so schwach waren, daß
man sie mit bloßem Auge nicht mehr erkennen konnte. Schließlich begann er zu
kichern. Er hockte sich auf seine Fersen und las Thorkjeld die Inschrift vor,
worauf dieser noch viel lauter lachte und sie auch für die anderen übersetzte.
»Orm Tokesson fand hier nichts
Anständiges zu trinken und traf nur bösartige Frauen. Dieser Ort soll verflucht
sein.«
»Muß vor meiner Zeit gewesen sein«,
meinte Miss Hilda herablassend.
»Dann glauben Sie also, daß der
Runenstein echt ist?« stieß Shandy aufgeregt hervor. »Herr des Himmels! Was
sollen wir denn jetzt machen?«
»Ich will verflucht sein, wenn ich das
weiß. Am besten lassen wir einen Haufen Archäologen aus Harvard oder sonstwo
herkommen. Die werden dann ihre verdammte Arbeit schon erledigen.«
»Ich muß zugeben, daß es mir reichlich
schwerfällt, das alles zu glauben. Warum sollte ein Wikinger Zeit und Mühe
verschwenden und ein solides Stück Granit bearbeiten, um sich dann lediglich
über die Frauen und das Saufen auszulassen?«
»Sie verstehen offenbar die Seele der
Nordländer nicht, Shandy. Sie waren immer ein Volk großer Dichter.«
»Dann soll das hier also große
Dichtkunst sein?«
»Tja, Orm hätte vielleicht mehr
geschrieben, wenn der Stein nicht so verdammt hart gewesen wäre. Jessas,
stellen Sie sich nur vor, Sie hätten wochenlang, was sage ich, monatelang, in
einem Boot gehockt, der Metvorrat wäre ständig geschrumpft, das Fleisch wär’
verfault, und Sie hätten
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