Ueberdog
zum Leben erwacht und rächte sich jetzt an dem Mann, der es bewohnte.
Ich sah in die Runde. Ich versuchte, die zerstörten Gesichter mit der Vorstellung von Nina Löwitsch zusammenzubringen, den weiß gestrichenen Stahlträgern ihrer Atelieretage, den prallen Sofas ihrer Wohnlandschaft. Doch ich wusste, dass Ninas Kamera nicht nur den Bildern Patina verlieh, sondern auch den Modellen. Ich bemühte mich, Übereinstimmungen zu erkennen zwischen der kühnen Brutalität ihrer Fotos und der Gewalt des Schicksals, die in diesen Gesichtern ihre Narben hinterlassen hatte. Dann sah ich Schmiddel an, der meinem Blick auswich und mir so Gelegenheit gab, ihn zu studieren. Er sah auch nicht hässlicher aus, musste ich schließlich zugeben, als, sagen wir, Andy Warhol.
Als ich die Blicke auf mir spürte, versuchte ich zu lächeln, wie ich es gelernt hatte. Doch längst beschäftigte sich die Runde wieder mit ihren Füßen, ihren Händen oder ihren Zigaretten. Meine Zurückhaltung schien sie zu langweilen, und sofort fühlte ich mich unendlich müde.
Ich sah Schmiddel an, als könnte er mich erlösen. Ich sah seine Sonnenbrille, die ihren eigenen Ausdruck des Mitleids entwickelt hatte. Schmiddel legte den Kopf schief und musterte mich besorgt, wie jemanden, in dem er sich vielleicht getäuscht hatte. Ich spürte, wie sein Blick mich bedrängte; ich spürte das unsinnige Bedürfnis, mich zu rechtfertigen, meine Anwesenheit zu begründen.
»Sie kennen Nina Löwitsch«, stellte ich fest.
»Nina«, murmelte der Mann; dann blickte er Richtung Fluss. Ein Feuerwehrwagen ohne Blaulicht und Martinshorn jagte die Straße herauf. Schmiddel versenkte sich in den Klang.
»Wetten, dass ich ein Bier mit dem Auge aufmachen kann«, warf Chuck ein. »Um ein Bier.«
Es fühlte sich an wie reiner Trotz, wie die Auflehnung gegen ein Naturgesetz, als ich jetzt die Nikon hob. Mir war, als böte ich eine Handvoll Glasperlen an, um das Wohlwollen eines Volks zu kaufen, das vielleicht längst schon mit Derivaten handelte.
»Ich bin Stella«, legte ich hastig nach. »Ich arbeite mit Fotografie.«
Im gleichen Augenblick kam ich mir dumm und anmaßend vor. Ich sah in die Gesichter, die jetzt teilnahmslos aussahen und undurchlässig, und verbesserte mich: »Ich mache Fotos von Menschen.«
»Was für Menschen«, fragte Chuck lauernd. Wieder rollte ein starker, körperlicher Duft auf mich zu, ein neuer Geruch; ich war wieder stolz auf meine Nase, auch wenn ich nicht wusste, ob es nur Misstrauen war, was ich jetzt roch. Hilflos nannte ich Namen, doch keiner der Namen löste eine Reaktion aus. Chuck brummte etwas in Zebras Ohr; ihr Lachen klang wie ein startendes Mofa. Zork starrte finster vor sich hin, als plane er einen Mord.
»Wird man reich damit«, fragte Chuck nach einer langen, wie zum Platzen gestauchten Pause. Er klang jetzt abgetönt, gedämpft von Mitleid und Langmut. »Was für ein Auto fährt man, in was für einem Haus wohnt man«, ergänzte er; er wedelte mitder Hand. »Wie behandeln einen die Bullen, wenn sie einen auf der Straße anhalten.«
Das Verhör begann mir auf die Nerven zu gehen. Längst konnte ich mich nicht mehr erinnern, was ich hier tat. Ich sah, wie Zork mit gelangweilter Grausamkeit Zebras Hund ärgerte; geduldig zog er das Tier am Schwanz, rieb gleich darauf die Wange an der Dackelschnauze.
»Es geht nicht ums Geld«, sagte ich knapp.
Im gleichen Moment wurde mir klar, dass ich mich lächerlich machte. Längst hatte ich keine Lust mehr, weiterzureden, doch eine seltsame Wut trieb mich voran. Blindlings stolperte ich vorwärts: »Man lernt Menschen kennen. Interessante Menschen, die Dinge bewegen. Menschen, die machen, was sie wollen. Die besonders sind.«
Ich holte tief Luft, dann winkte ich ab: »Was weiß ich.«
Erst jetzt sah ich, dass Zebra sich wild in ihrem Sessel wand. Wie in Ekstase warf sie den Kopf hin und her. Entsetzt sah ich in ihr schauriges Gesicht, ihre geschlossenen Augen und den verzerrten Mund. Dann hörte ich ihr Keuchen.
»Ooooh, ist das sexy«, keuchte sie. »Aaaah, ich halt’s nicht aus.« Ich hörte die kleinen, atemlosen Japser: »Uuuuh, ist das geil. Ich glaub, mir kommt’s gleich.«
Am liebsten wäre ich in einen Film geflüchtet. Mir schwebte irgendein Film mit roten Cabrios vor, mit Sonnenbrillen und der Côte d’Azur. An meiner Seite ein lässiger Teufelskerl, der das Leben nicht ernst nahm und es dadurch bezwang, Haltung und Schuhwerk aus einem Guss. Ich blickte in die Runde,
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