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Ueberdog

Ueberdog

Titel: Ueberdog Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joerg-Uwe Albig
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»König der Löwen« ihrem traurigen Höhepunkt zustrebte.
    Mit einem einzigen Blitz gelang es mir, die Aufmerksamkeit zu sammeln. Die Köpfe ruckten herum, und jetzt sahen alle, wie Schmiddel das Radio hob; über ihm Sterne, Flugzeuge, ein träger, pulsender Satellit. Alle sahen, wie Schmiddels Daumen das Rädchen drehte; es sah aus, als setzte das Drehen sein Strahlen in Gang. Die Musik ergriff ihn, so wie er die Musik ergriffen hatte.
    Wir alle sahen dieses Strahlen. Und wir alle spürten jetzt, wie der Wind über den Fluss kam; ein warmer, absichtsloser Wind, ein verspieltes, beiläufiges Rauschen. Doch es war ein Wind, der mit der Fülle des Weltalls hereinbrach und von der Musik nur ein fernes, jenseitiges Flüstern übrigließ.
    Wer sich Mühe gab, konnte, wenn der Wind abebbte, zwei, drei Takte von »You Can’t Always Want What You Get« erhaschen, bevor ein neuer Wind kam, vielleicht auch der alte, mit neuem Anlauf. Jedenfalls starrten alle angestrengt Schmiddel auf seinem Gipfel an, der so stumm war wie sein Radio; und alle sahen, wie er leicht mit dem Kopf nickte, wie seine Lippen den Worten folgten. Alle sahen, wie er hineinwuchs in diese Musik, die nur er hören konnte; die ihm allein gehörte und die er nun für alle verkörperte, mit jeder Falte seines Gesichts, seines Mantels; in seiner Sphäre, die unter den versammelten Blicken zu zittern schien wie die Sommerluft über einer ländlichen Asphaltstraße.
    Es waren zwei Jungen, kaum erwachsen, mit Topffrisuren und quergestreiften, weit ausgeschnittenen Leibchen, die als Erste zu tanzen begannen. Sie warfen die Arme diagonal vor den Körper, hoben die Knie bis zu den Brustkörben. Ich sah hinauf zu Schmiddel und wieder zurück zu den Jungen; sie schienen zu seinen Atemzügen zu tanzen, zu seinen Lippenbewegungen, zu den Gezeiten seines hoch aufgerichteten Körpers.
    Von Zeit zu Zeit hörte ich leise Musik, ein paar verzerrte Akkorde von »Weiter als weit«, die verwischten Rhythmen von »Baby, I Wanna Hold Your Daffodil«. Die beiden Jungen hielten noch immer den Takt; und längst wogten zwei Dutzend Tänzer zwischen den Betongipfeln, tanzten zu den Schwingungen, die Schmiddel ihnen schickte, zuckten knapp mit den Becken, warfenArme und Beine in die Luft. Sie überließen sich den Signalen, den unsichtbaren Wellen, die Schmiddel aussandte und die sie empfangen konnten wie das Transistorradio, das locker in Schmiddels Faust lag wie eine Startpistole für den Wettlauf in die Glückseligkeit.
    Ich setzte die Bierflasche an und lehnte mich zurück. Ich fühlte mich einverstanden mit meinem Posten; kaum vermisste ich die Gesellschaft von Schmiddel, Chuck und Zork, von Zebra, Betty und Paul. In diesem Moment hätte ich ihnen nichts zu sagen gewusst. Nur einmal, als ich sah, wie Chuck und Zork die widerstrebende Zebra in die Mitte nahmen und zur Tanzfläche drängten, gegen das Trampeln ihrer langen, vom Glockenrock umspielten Beine anschiebend, höhlte ein kurzer Augenblick der Eifersucht meinen Magen aus.
    Dann drehte sich Zebra mit geschlossenen Augen, gezähmt und entfesselt zugleich, zwischen ihren Begleitern. Sie schwang die Fäuste gegen den Himmel, und Chuck und Zork klatschten in die Hände, die Oberkörper vorgebeugt wie Buschmänner auf Jagd. Ich beschloss, einen kleinen Spaziergang zu machen.

    Längst hatte die Party die Grenzen der Dachterrasse gesprengt. Sie überspülte jetzt das ganze Gebäude. Im Kleinen Konzertsaal lag eine Frau rücklings auf Kartons mit technischen Aufschriften, die Ballerinas am Fußende aufgestellt. Sie starrte an die Decke, kraulte den Kopf eines Mannes, der die Zunge in ihren Bauchnabel bohrte; sie seufzte: »Ach nee.« Auf der Plaza kletterten Gäste die schrägen Säulen hoch, versuchten, den Biergüssen auszuweichen, die aus Plastikbechern in ihre Richtung schossen. Ein Frauenquintett, das ich vage von ein paar Eröffnungenbei Supp Contemporary kannte, rodelte auf Plastikfolien die Rolltreppenröhre hinab, Augen aufgerissen und Zähne gebleckt. Statt der üblichen Surimi-Ledertrenchs, Neonjeans und Kitten-Heels von Nagorny trugen sie Deutschland-Trikots von der WM 1998; unter Kampfschreien pflügten sie durch den Gegenverkehr, der unablässig vom Erdgeschoss aufwärtsdrängte.
    Ich fing den Blick Chucks auf, der vergeblich auf Zugang zur Rolltreppe wartete, und lächelte ihm aufmunternd zu. »Ich glaube, das ist mir bisschen zu sportlich hier«, sagte ich. »Wollen wir den Fahrstuhl nehmen?«
    »Jeder, wie er

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