Ueberdog
Bock hat«, sagte Chuck, blieb stehen und starrte weiter auf das Loch, das in die Tiefe führte.
Schließlich kehrte ich zurück zum Dach. Schmiddel führte noch immer seine stumme Show auf; doch jetzt hatte er angefangen, sich zu bewegen. Jetzt schwenkte er das Radio rhythmisch in der Luft wie ein Feuerzeug, hinterließ unsichtbare Leuchtspuren, Spray-Tags, Flaggenzeichen. Er hatte die Augen geschlossen, spürte der Musik nach, die stoßweise aus dem Gerät drang, in dünnen Schlieren; bisweilen durchsetzt von weißem Rauschen, wenn Schmiddel in seiner stillen Ekstase an das Senderrad stieß. Doch am Himmel, das hätte ich beschwören können, blakte der Mond.
Die Menge zu Schmiddels Füßen war selig. Ohne zu hören, tanzten die jungen Römer zu der Musik, die Schmiddel war . Ihr Tanz hatte eine Ernsthaftigkeit, die mich rührte; nur an Schmiddels Lippenbewegungen konnten sie ablesen, ob sie zu »Sexy Schlauch« tanzten, zu »Küss mich dumm« oder zu »Schatzi, schenk mir ein Abendbrot«. Bei »Zu jung (um alt zu sein)«streckte Schmiddel den schmalen Hintern hervor, dann wippte er mit dem rechten Unterschenkel. Wie auf Befehl verebbte der Wind und ließ laut und brüchig den Refrain aufwimmern. Ein einziger Freudenschrei antwortete aus hundert Kehlen.
Ich hielt mich am Rand des Geschehens. Ich nickte mit dem Kopf; eine bewährte Methode, mit der ich es manchmal schaffte, mich in Stimmung zu bringen. In der Menge entdeckte ich Betty, zwei Meter von mir entfernt. Ihr Mund grinste, noch breiter als gewöhnlich; die Wimpern lagen lang und erschöpft über geschlossenen Lidern.
Längst hatte sie sich von Schmiddels Rhythmen befreit. Ihr Körper folgte jetzt seinen eigenen Gesetzen, seiner eigenen Choreographie. Es war ihre Peristaltik, die sie in Gang hielt, der Taumel ihrer Organe; als schwappten die achtzig Prozent Wasser, aus denen jeder Körper besteht, in ihrer Haut ohne Widerstand hin und her.
Dass ihr schlaffer Leib unablässig gegen einen der anderen Tänzer prallte, schien sie nicht zu bemerken. Auch schien sich niemand um sie zu kümmern; nur manchmal streckte sich ein Arm aus, stellte einen Abstand wieder her oder gab Hilfestellung. Bettys rechte Hand krallte sich in ein T-Shirt mit dem Aufdruck »Bier formte diesen wunderschönen Körper«. Natürlich war es eine Frau, die das T-Shirt trug. Und ich musste zugeben, dass sie wirklich wunderschön war.
Die Frau lachte. Über dem T-Shirt trug sie eine Strasskette von Treblinski, die ihre weißen Zahnreihen verdoppelte. Sie warf feurige Seitenblicke zu ihrem Freund, der unter der blauen Handwerker-Latzhose weiße Socken trug; aufmunternd hob er den Daumen. Betty rotierte gefährlich auf dem Absatz, strecktesuchend die Linke aus, packte schließlich die Latzhose, erwischte sie genau am Latz. Ein paar Sekunden lang taumelte sie, schwankend zwischen T-Shirt und Latzhose, taumelte vor und zurück, bis sie Shirt wie Hose losließ und in flüssigem Bogen zu Boden sank.
Zögernd öffnete sich eine Lücke in der Menge. Menschen wichen Betty aus, kurz lächelnd, dann wieder auf Schmiddels unhörbare Musik konzentriert. Sie umtanzten Bettys gestrandeten Körper, der jetzt auf allen vieren bebte und versuchte, Höhe zu gewinnen. Ich sah Bettys Augen, Bettys ziehenden, noch im Desaster ungerührten Katzenblick. Sie starrte mich an. Und es war nicht zu entscheiden, ob sie Hilfe suchte oder Streit.
Ich streckte die Hand aus. Und als Betty ebenfalls den Arm hob, dabei ihr heikles Gleichgewicht in Schieflage brachte, trat ich einen Schritt näher und packte sie am Unterarm.
Zentimeter um Zentimeter arbeitete Betty sich an mir hoch. Ich spürte die Kraft ihrer kleinen Hände. Es tat weh, wenn sie in mein Fleisch griffen. Ich nahm einen scharfen Geruch wahr, der stärker und stärker wurde. Doch erst als Bettys Frisur auf meiner Schulterhöhe war, als sie die Arme um mich schlang und den Kopf in meine Achselhöhle wühlte, wurde mir klar, dass Betty sich eingenässt hatte.
Es war keine Überlegung, keine bewusste Abwehr. Es war nicht einmal Ekel. Es war Mechanik, eine physikalische Reaktion aus Druck und Gegendruck, die dazu führte, dass Betty plötzlich wieder am Boden lag. Ich sah Betty benommen zu meinen Füßen liegen; ich sah die verständnislosen Blicke ihrer Katzenaugen. Betty wälzte sich über den Boden auf mich zu, den Kopfhart über dem Beton; dann spürte ich, wie ihre Arme meine Beine umschlangen. Fang jetzt bloß nicht auch noch an zu kotzen, dachte ich;
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