Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ueberdog

Ueberdog

Titel: Ueberdog Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joerg-Uwe Albig
Vom Netzwerk:
verabschiedete mich von niemandem, nicht einmal von Schmiddel, der mich verstanden hätte. Ich stopfte meine Kleider in einen Einkaufswagen, kratzte sinnlos an einem Eifleck auf meinem Trenchcoat herum. In der Morgendämmerung saß ich auf dem Elbbalkon über dem Hafen, umringt von jungen Menschen, die nicht nach Hause wollten; auch sie hatten offenbar Momente, in denen sie ahnten, dass ein Zuhause immer eine Falle war. Eine Falle, mit einer Mauer vom Himmel getrennt, so wie auch jeder Himmel mit einer Mauer getrennt war vom nächsten Himmel.
    Ein lockiges Mädchen mit kurzer Stirn und einem Gesicht, das auf verweinte Art fröhlich war, bot mir einen Schluck aus ihrer Wodkaflasche an.
    »Ganz lieben Dank«, sagte ich und lächelte sie an. »Ich hab schon.«
    Als ich am frühen Mittag vor dem Haus in der Bernstorffstraße stand, hatte ich das vertraute Gefühl von vorläufiger Heimkehr, wie ein Besuch bei den Eltern in der Studentenzeit. In meinem Einkaufswagen lag der blau glänzende Müllbeutel mit der Schmutzwäsche, und einen Moment lang fragte ich mich, was es wohl zum Mittagessen gebe. Ich wusste, dass Patrick, der Asket, in der Mensa der Universität aß. Aber da war der Kühlschrank, von Patrick gewöhnlich beflissen befüllt mit Büffelmozzarella und Pastinaken aus der Region. Im dritten Stock stand ich ratlos vor unserer Stahltür, deren paranoide Wucht mir jetzt lächerlich vorkam; ich las den Klebestreifen aus Krepppapier an der Tür: »FITZLEIN«.
    Fitzlein.
    Ich trat einen Schritt zurück. Über mir, unter mir lebte das Haus seine vielen kleinen Leben. Jede Wohnung war ein Universum; darin bewegten sich Menschen, als bereisten sie Galaxien. Sie gingen ins Bad wie nach Neuseeland, sprachen mit ihren Ehemännern, als hielten sie eine Weihnachtsansprache vor sechs Millionen Zuschauern. Sie verrückten eine Araukarie, reinigten die Badewanne, saßen weinend mit einer Flasche am Küchentisch. Manchmal drang ein Laut aus dem Nachbaruniversum durch die Wand, ein Wutausbruch, ein Rülpsen, ein Stöhnen; ein Lachen über einen Witz, der außerhalb der Wohnung schon nicht mehr zündete. Das waren Kometen am Himmel, Lichtjahre entfernt, oder Sterne, die es schon längst nicht mehr gab.
    Ich hörte ein Trappeln über mir, einen Galopp. Theres Brunckhorst aus dem vierten Stock preschte vorbei, im Samtkleidchen, den Oboenkoffer in der Hand. Ich lief ihr hinterher: »Theres«, sagte ich. »Warte mal.«
    Theres Brunckhorst drehte unwillig den Kopf. Sie schien mich nicht zu erkennen; sie hatte keine Lust, ihre Geschwindigkeit zu drosseln. »Ist irgendwas passiert im dritten Stock«, setzte ich nach.
    Sie sah mich an, als wäre ich ein Gespenst. Und ich war fast erleichtert, als Theres Brunckhorst dann mit den Schultern zuckte, wie um eine Sinnestäuschung zu vertreiben, den Zopf nach vorn warf und ihm folgte, treppab, dem Oboenunterricht entgegen.
    Ich erinnerte mich, wie lange die Wohnung mein Beweisstück gewesen war, mein Ausweis des richtigen Lebens. Das richtige Leben war ein Leben, das den Engeln gefällig war; ihnenschuldete ich den Settembrini-Esstisch, die Deckenlampe von Evangelista. Wir hatten nicht oft Gäste; unsere Wohnung richtete ich für die Engel ein, die zu jeder Tageszeit unsichtbar anwesend waren, liebend und streng. Die Evangelista-Deckenlampe rückte mein Leben für sie in ein Licht, das von oben kam – ein Abglanz von Tina Menelaos’ Louis-XV-Kronleuchter, der in ihrem Wohnzimmer über den Algarveklippen an einem endlosen Strang baumelte; von Chuck Persicos Terra-incognita-Aluminiumampel, die wie eine Tulpe aus ihrem Stahlsockel spross und ihre bissige Blüte dem Panoramafenster von Chucks Arbeitszimmer entgegenreckte, in dem besänftigend der Piz Palü stand. Da die Engel Menschen sind und wie die Menschen der Erde untereinander leben, so haben sie auch Kleider, Wohnungen und Ähnliches, nur mit dem Unterschied, dass bei ihnen alles vollkommener ist .
    Den Engeln nachzufolgen war nicht einfach gewesen; es hatte Verschwendung gekostet und Verzicht, Anstrengung und Anstrengungslosigkeit. Und manchmal war ich abends so erschöpft gewesen von der Anstrengungslosigkeit, dass ich, noch während ich, im Diamanti-Sessel sitzend, die Anti-Aging-Creme von Proulx auftrug, in zähen, Fäden ziehenden Tiefschlaf fiel.
    Dass mein Schlüssel so widerstandslos ins Schloss fahren würde, hatte ich jetzt nicht mehr erwartet. Auf dem nächstgelegenen Sofa streckte ich mich aus, legte die Fußknöchel auf die

Weitere Kostenlose Bücher