Überfahrt mit Dame
Stimmung ausnahm. Es war dunkel und herrlich blau und unerschütterlich still – bis auf das große regelmäßige Anschwellen seiner Herzschläge, dem Puls seines Lebens, und aus dem Dahintreiben in unendlicher Isolation und Muße erwuchs etwas so Freundliches, dass die Langsamkeit der Patagonia ein wahrhaftiger Segen war. Niemand wäre je auf die Idee gekommen, das Meer als vollkommenen Ort der Geborgenheit zu betrachten, doch nun schien es so, als könnte kein anderer gleichermaßen Sicherheit vor den Gefahren des Landes bieten. Da er keine Sorgen bereitet, nimmt er sie – nimmt einem die Briefe und Telegramme und Tageszeitungen und Besuche und Pflichten und Mühen, all die vertrackten und überflüssigen und abergläubischen Bürden, mit denen wir unser Leben an Land belastet haben. Die schlichte Abwesenheit des Briefträgers, während die besonderen Bedingungen einen die weite Wirklichkeit, inder die Briefe hervorgebracht werden, gleichzeitig genießen lassen, entpuppt sich als ein regelrechtes Geschenk des Himmels, und die sauberen Planken des Decks verwandeln sich in Bühnenbretter eines amüsanten Schauspiels, des menschlichen Dramas der Reise, der Bewegung und Interaktion im grellen Licht der See, von Personen, die lediglich eine Rolle spielen – und etwas darstellen, was nicht einmal in den aufregendsten Momenten so interessant ist, als dass man nicht nebenbei einschlummern darf. Ich zumindest döste bis zur Maßlosigkeit, auf meiner Decke ausgestreckt mit einem französischen Roman, und wenn ich meine Augen öffnete, sah ich für gewöhnlich Jasper Nettlepoint mit der jungen Frau, die der Obhut seiner Mutter anvertraut worden war, an seinem Arm vorbeigehen. In diesen Momenten zwischen Schlafen und Wachen meinte ich widersinnigerweise, dass mein französischer Roman sie in Bewegung versetzt hatte. Vielleicht weil ich mich von Anfang an der Täuschung hingegeben hatte, Grace Mavis als quasi verheiratete Frau anzusehen, was, wie jedermann weiß, der unverzichtbare Rang der Heldin eines solchen Werkes ist. Jede weitere Drehung unserer Schiffsschraube würde jedenfalls dazu beitragen, sie zu einer solchen zu machen.
Im Salon während der Mahlzeiten war meine Tischnachbarin zur Rechten eine gewisse kleine Mrs. Peck, eine gedrungene und rundliche Person, deren Kopf von einer »Wolke« (einer Wolke aus schmutzig weißer Wolle) umhülltwurde und die mich unvermittelt wissen ließ, dass sie wegen der Erziehung ihrer Kinder nach Europa reiste. Ich hatte – eine Stunde nachdem wir in See gestochen waren – bereits bemerkt, dass in deren Interesse einige energische Maßnahmen nötig wären, doch da wir Europa noch nicht erreicht hatten, wurde die Bußübung der vier kleinen Pecks vertagt. Sie erfreuten sich uneingeschränkter Freiheiten und schwärmten im Schiff umher, als seien sie Piraten, die es geentert hatten, und ihre Mutter war so machtlos, ihre Ausgelassenheit zu zügeln, als hätte man sie gefesselt und geknebelt im Frachtraum verstaut. Man konnte sich garantiert darauf verlassen, dass sie zwischen den Beinen der Stewards hindurchsprangen, wenn diese Dienstboten mit Suppenschüsseln für die ermatteten Damen erschienen. Ihre Mutter war zu sehr damit beschäftigt, den Mitreisenden all die Jahre vorzuzählen, die Miss Mavis bereits verlobt war. In der Leere unseres gemeinsamen Losgelöstseins wurden Dinge, die niemanden etwas angingen, bald zum allgemeinen Gesprächsstoff, und dies war nur einer jener Fakten, die mit rätselhafter und lächerlicher Geschwindigkeit die Runde machten. Das Flüstern, das sie weiterträgt, ist unbedeutend, betrachtet im großen Maßstab von Wind und Raum und Zeit, aber es ist auch zuverlässig, denn es gibt weder Presse noch Podium, welche die Sprecher für ihre Worte verantwortlich machen würden. Zudem ist eine Wiederholung auf See eigentlich keine Wiederholung, Monotonie liegt in der Luft, derGeist stumpft ab, und alles kehrt wieder – die Glockenschläge, die Mahlzeiten, die Gesichter der Stewards, das Umhertollen der Kinder, der Spaziergang, die Kleider, sogar die Schuhe und Knöpfe der Passagiere, die ihren Rundgang machen. Diese Dinge wirken mit einem Mal so nebensächlich und öde, dass als Ausgleich die Schlaglichter auf das Privatleben der anderen Passagiere an die Stelle des freundlichen Flackerns im heimischen Herd treten.
Jasper Nettlepoint saß zu meiner Linken, wenn er nicht oben war, um sich an Deck um einen bequemen Ruheplatz für Miss Mavis zu kümmern. Der
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