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Überfahrt mit Dame

Überfahrt mit Dame

Titel: Überfahrt mit Dame
Autoren: Henry James
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dann das Problem, indem sie blieb, wo sie war. Sie ließ sich auf eine der Bänke fallen und sah zu mir auf.
    »Hatten Sie nicht gesagt, er würde zurückkommen?«
    »Der junge Nettlepoint? Ja, ich habe bemerkt, dass er nicht gekommen ist. Miss Mavis hat ihm demnach die Hälfte ihres Abendbrots abgegeben.«
    »Wie freundlich von ihr! Sie war die Hälfte ihres Lebens verlobt.«
    »Ja, aber das wird bald Vergangenheit sein.«
    »Das nehme ich auch an – kaum dass wir an Land gegangen sind. In der Merrimac Avenue weiß das jeder«, fuhr Mrs. Peck fort. »Dort interessiert sich jeder dafür.«
    »Ach, natürlich – ein Mädchen wie sie hat viele Freunde.«
    Doch meine Informantin wollte auf etwas anderes hinaus. »Ich meine, sogar Personen, die sie nicht kennen.«
    »Ich verstehe«, fuhr ich fort. »Sie ist so hübsch, dass sie Aufmerksamkeit erregt – die Leute mischen sich in ihre Angelegenheiten ein.«
    Mrs. Pecks Antwort klang, als käme sie aus der Kommandozentrale jener Leute. » Früher war sie hübsch, aber heutzutage halte ich sie für alles andere als bemerkenswert. Jedenfalls sollte sie umso mehr darauf achten, was sie tut, da sie Aufmerksamkeit erregt. Das sollten sie ihr lieber sagen.«
    »Oh, das geht mich nichts an!«, ließ ich leichtfertig fallen, verließ die grässliche kleine Frau und ging nach oben. Zugegeben, diese Bekundung entsprach nicht wirklich meiner Auffassung, oder meine Auffassung harmonierte nicht unbedingt mit meiner Behauptung. Als ich das Deck erreichte, war mein allererster Eindruck von Miss Mavis, die an Jasper Nettlepoints Arm spazieren ging, dass sie immer noch genug Schönheit besaß, um Blicke auf sich zu ziehen, gleich, wie viel sie davon nach Mrs. Pecks Andeutungbereits eingebüßt haben mochte. Sie trug eine karmesinrote Haube, die ihr sehr gut stand und die sie während der restlichen Überfahrt nicht mehr ablegte. Sie hatte einen eleganten Gang mit großen Schritten, und ich erinnere mich, dass es in diesem Moment eine sanfte Abenddünung gab, die das große Schiff sacht und rhythmisch schaukeln ließ und die Bewegungen der anmutigen Fußgänger noch anmutiger machte, während jene der unbeholfenen noch unbeholfener wirkten. Es war die wundervollste Stunde eines schönen Tages, der heitere frühe Abend, mit der Glut der untergehenden Sonne am Himmel und einer Purpurfarbe auf den Tiefen. Es war mir stets gegenwärtig, dass so die Meere ausgesehen haben müssen, die von den Helden Homers durchpflügt wurden. Bei dieser besonderen Gelegenheit wurde mir zudem bewusst, das Miss Mavis während der restlichen Reise das sichtbarste Wesen weit und breit sein würde, die Person, die in den Konstellationen der Passagiere an Bord am meisten zählte. Sie konnte nichts dafür, das arme Mädchen. Die Natur hatte sie auffällig sein lassen – wichtig, wie es die Kunstmaler nennen. Sie bezahlte dafür mit der entsprechenden Exponiertheit, der Gefahr, dass sich andere, wie ich Mrs. Peck gegenüber erwähnt hatte, in ihre Angelegenheiten mischten.
    Jasper Nettlepoint ging zu festen Uhrzeiten nach unten, um seine Mutter aufzusuchen, und ich lauerte auf eine dieser Gelegenheiten – am dritten Tag auf See – undnutzte sie, um auf Miss Mavis zuzugehen und mich zu ihr zu setzen. Sie trug einen tief ins Gesicht gezogenen hellblauen Schleier. Wenn also das Lächeln, mit dem sie mich begrüßte, nicht allzu strahlend war, konnte ich es zum Teil diesem Umstand anlasten.
    »Nun, wir kommen voran – wir kommen voran«, sagte ich fröhlich und blickte auf das freundlich blinzelnde Meer.
    »Sind wir sehr schnell?«
    »Nicht schnell, aber stetig. Ohne Hast, ohne Rast – sprechen Sie Deutsch?«
    »Nun, ich hatte Unterricht – ein wenig.«
    »Es wird Ihnen drüben nützlich sein, wenn Sie reisen.«
    »Nun ja, falls wir reisen. Ich glaube aber nicht, dass das oft der Fall sein wird. Mr. Nettlepoint meint, dass wir es tun sollten«, fügte meine junge Frau einen Moment später hinzu.
    »Ach, natürlich denkt er das. Er hat die ganze Welt bereist.«
    »Ja, er hat mir einige der Orte beschrieben. Sie müssen wundervoll sein. Ich hätte nicht gedacht, dass es mir so gut gefallen würde.«
    »Dabei sind wir noch nicht einmal in Europa!«, lachte ich.
    Nun, dieser Umstand kümmerte sie nicht im Geringsten. »Ich meine, auf diese Art zu reisen. Es könnte immer so weitergehen – für immer und ewig.«
    »Ach, wissen Sie, es ist nicht immer so angenehm«, erwähnte ich hastig.
    »Nun, es ist besser als
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